Tuesday, December 25, 2007

Marathon-Gebrauchsmusik

Schon der Rattenfänger von Hameln wusste, dass Musik mobil macht. Indem er sich anerbot, mit seiner Flöte die Stadt von den aufsässigen Nagern zu befreien, erwies er sich als Meister in einer besonderen Gebrauchsmusik: Wie auf Kommando huschten alle Ratten und Mäuse aus ihren Löchern dem musikalischen Entführer nach. Sie folgten ihm sogar in den benachbarten Fluss, wo sie elendiglich ertranken. Später waren es dann die Kinder der Stadt, die der Musiker betörte und entführte, aus Rache, weil man die Wirkung seiner Musik gering schätzte und ihn für die klingende Schädlingsbekämpfung nicht wie versprochen bezahlen wollte.[1]

Wer Waffengefährten rekrutieren will, muss zur Trommel greifen. Jeder Armeekommandant weiss um die wesensverändernde Kraft flotter Musik. In jedem Polizeikorps, sogar in Feuerwehren, erklingt Brass- und Jazz-Musik, um die Sinne zu aktivieren und um die Beine bei Bedarf in Bewegung zu versetzen. Der Extremkletterer Oswald Oelz summte stets einen Ohrenwurm, eine innere Melodie, die sich immer dann einstellte, wenn er mit besonderer Kraft und Ausdauer stundenlang stiegt. In den Baumwollfeldern der Südstaaten wurden a capella Worksongs skandiert.[2] Rhythmus stärkt den Arbeitseifer, den Korpsgeist oder gar den Kampfgeist, je nachdem. „Musik macht für viele das Laufen zur Lust“, titelt die NZZ.[3] An Volksläufen ist die Begleitmusik im Kopfhörer ein hierzulande toleriertes Motivationsmittel. Es macht die verbissene Lauf-Plackerei erträglich. Musik treibt an und verhindert, zu sehr auf seinen Körper zu horchen, der in Grenzsituationen nur zu gerne Übungsabbruch signalisiert. Musik am Marathon bewirkt eine völlig unbewusste Regularisierung autonomer Körperfunktionen, wodurch sich die Belastungsgrenzen erweitern lassen.

Mister Sony erschloss 1979 ein riesiges Konsumpotential, als er den Walkman erfand. Wer damals mit einem Kopfhörer herumlief, wurde anfangs belächelt, dann kopiert. Die Jungen entdeckten, dass in ihren Lieblingssongs eine Kraft steckt, um im Dschungel der Grossstadt mobil, bei Laune und bei sich selbst zu bleiben. Die Mikroelektronik verzehnfachte den Trend: Dank Internet, digitaler Kompression (MP3) und Miniaturisierung (iPod und ähnliche MP-Player) ist der persönliche Rhythmus heute überall wie Luft zum Atmen verfügbar. Heerscharen normaler Menschen wollen nicht mehr darauf verzichten – weil ihnen das Musikhören, das Hereinziehen der persönlichen Chillout-Melodie gut tut.

Übrigens: Psychofonie-Klangfolgen erweitern das Regenerations-Instrumentarium beträchtlich, denn die vom eigenen Ruhe-EEG abgeleiteten Klangfolgen erweisen sich als besonders wirksam, sogar bei Schmerzen, Migräne, nervösen Magendarmstörungen, Angstzuständen, Schlaflosigkeit und Ähnlichem.

Und nun soll in den USA – man lese und staune – die persönliche musikalische Konditionierung in Volksläufen verboten werden. Läufer, die mit dem Knopf im Ohr erwischt werden, sind disqualifiziert.

Wer bekämpft(e) die Taliban? – Und was hatten diese Fundamentalisten verboten? Das Musikhören! Und nun kommt von der Anti-Taliban-Kultur das Musikverbot hausgemacht wieder zurück. Was in Kabul heute normal ist, wird nun in den USATF[4] verboten. Man forsche nach den Gründen. „Die Prämien der Haftpflichtversicherungen sind höher, wenn wir Musikgeräte zulassen“, wird der US-Marathon-Veranstalter zitiert. Aha! Wie schon weiland in Hameln, will man auch heute für die Kosten nicht gerade stehen. Was die Taliban religiös unterdrücken, unterbindet in den USA der Mammon. Leider sagt der Bericht nicht, was die Haftpflichtmathematiker befürchten, wenn sie am Marathon Musik zulassen. Ich vermute, dass es ein Missverständnis ist.

Musik und Rhythmus sind ein mächtiges Flussmittel, ein Lockerungs- und Befreiungsmedium im eigenen Körper, aber auch in Körperschaften und in der Gesellschaft. Wer solches verbietet, unterdrückt die Menschen, schafft Unfreiheit. Und: Der Takt im Laufen hat viel mit Musik zu tun. Vom Laufen zum Tanzen ist nur ein kleiner Schritt. Doch davon später!
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[1] Siehe Deutsche Sagen Nr. 245 von Brüder Grimm bei http://gutenberg.spiegel.de/; es gibt viele ähnliche Sagen über die spezifische Wirkung von Rhythmus und Klangfolgen, in allen Kulturen.
[2] Bei Wikipedia unter Worksong: Dadurch entstand ein starker Rhythmus, der den Arbeitsablauf leitete. Er hielt zum einen die Konzentration jedes Einzelnen aufrecht und sorgte zum andern für bessere Koordination der Bewegungen, lenkte alle Sänger von der Monotonie der Arbeit ab, erleichterte ihre gemeinsamen Bewegungsabläufe und steigerte so ihr Durchhaltevermögen. Oft wurden dieselben bekannten Melodien bei neuen Arbeiten mit neuen Texten unterlegt, um die schon eingearbeitete Gruppe zusammenzuhalten.
[3] NZZ am Sonntag vom 16. Dez. 2007, S. 59
[4] http://www.usatf.org/ organisiert den Laufsport in den USA


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