Sunday, June 3, 2007

Das Diagnosen-Karussel


Die Zweitmeinung bringt mir weder ein Quacksalber noch ein Kardiologe, sondern der Hausarzt ins Haus. Er nimmt sich Zeit und besucht mich am Feierabend. Ganze zwei Stunden erklärt er mir meinen Fall. Aus langer Tätigkeit in Entwicklungsländern und als Oberarzt in einer Intensivstation kann er aus dem Vollen schöpfen. Ausserdem hat er es in seiner Hausarztpraxis als FMH für Innere Medizin mit besonders vielen Herzkranken zu tun. Er führt mir drastisch vor Augen, wie heimtückisch meine Variante ist. Die Aortenstenose verläuft asymptomatisch, vielfach wird sie deshalb nicht entdeckt[i]. Macht Sie dann eines Tages ein Symptom[ii], weil die Klappenöffnung unter einen Viertel geschrumpft ist, besteht dringend Handlungsbedarf. Dafür gibt es keine Medizin, nur ein Klappenersatz durch Operation kann mir das langfristige Weiterleben ermöglichen. Trotz grosser Forschungsanstrengungen für Ersatzklappen, die per Herzkatheter ohne Narkose eingepasst werden können[iii], kommt für mich diese fantastische Innovation zu spät. Um mir eine zweite grosse Herzoperation möglichst zu ersparen, kommt nur[iv] eine künstliche Carbonklappe in Frage, wie Sie schon seit 30 Jahren eingenäht wird. 1.7 Millionen solcher Klappen hat die Herstellerfirma[v] schon verkauft. Es gibt also eine riesige Erfahrung für diese Art von Operation, die in Deutschland über 15’000 Mal jährlich ausgeführt wird. In der Schweiz dürften es zwei oder mehr solche Operationen pro Tag sein.

Grosse Herzoperation? Da man die grosse Schlagader von der linken Herzkammer trennen muss, um die Klappe einzunähen, muss das Herz stillgelegt und gekühlt werden. Die Blutversorgung übernimmt dann die Herz-Lungenmaschine, die von einem spezialisierten Kardiotechniker bedient wird. Ein Hauptproblem besteht im Vermeiden von Luftblasen[vi] im Blutkreislauf. Das Schlauchset und alle vier Gefässe, die mit dem Herz verbunden sind, werden entlüftet, bevor sie extrakorporeal mit Blut gespiesen werden. Der Übergang muss in wenigen Sekunden richtig laufen, um das Hirn möglichst nicht zu schädigen. Da der Brustkorb offen ist, muss die Lunge über einen Tubus beatmet werden, was vom Anästhesie-Arzt gemacht wird. Dieser überwacht die Narkosetiefe mit verschiedenen Blut-Messverfahren. In fortschrittlichen Zentren wird überdies ein zerebrales EEG-Vigilanzmonitoring eingesetzt.

Zu dem erneuten Spitaleintritt hilft Mutter Natur etwas nach, die mir gleichzeitig eine Darminfektion schickt. Schon seit einigen Tagen fröstelt es mich abends. Nach dem Hausarztbesuch verspüre ich einen Kloss im Magen. Der Magendruck wird schlimmer und ich muss bald heftig erbrechen. Es ist uns nicht geheuer, zumal das Herz sehr pocht und schwirrt. Dies veranlasst mich, nach zwei Tagen Heimurlaub, erneut ins Spital einzutreten. Ich werde nun auch auf Gastro-Enteritis untersucht, die man bald bestätigt. Also habe ich Recht mit meiner Behauptung, dass die kardiologischen Befunde des ersten Spitaleintritts nicht die ganze Wahrheit sind. Die harmlose Darminfektion nimmt ihren Lauf und endet bald mit einem wässrigen Stuhlabgang. Nun werde ich jeden Tag mit neuen kardiologischen Abklärungen bekannt gemacht. Man will die Aortenklappe noch genauer beobachten.

Für die transösophageale Echokardiographie muss ich unterschreiben, da man mich dazu in eine leichte Narkose versetzt. Das linke Herz ist per Ultraschall am besten vom Magen aus erreichbar. Die Sonde besteht aus einem fingerdicken Schlauch mit einem Ultraschallkopf im verdickten Ende. Schon wieder eine Schlange, denke ich. Diese wird durch den Mund in die Speiseröhre geschoben. Atmen kann man nur noch durch die Nase. Da ich einen starken Würgreflex habe, wird mein Mund unempfindlich eingesprayt, ich muss überdies diese üble Flüssigkeit möglichst weit hinten gurgeln. In wenige Minuten ist mein Mund nur noch ein riesiges Loch ohne Empfindungen. Das Narkosemittel wird an der Infusion bereitgelegt. Ich muss mithelfen und kräftig schlucken, wenn der Arzt, der die Sonde hinunterschiebt, das Zeichen gibt. Zwei oder dreimal heftig geschluckt, und die Sonde liegt schon im Magen. Jetzt sinke ich in die Narkose. Manchmal höre ich noch das Gespräch beider Kardiologen, die nun gemeinsam die Klappe abtasten und beurteilen. Alles wird als Video aufgezeichnet. Schon erwache ich wieder und gebe das verabredete Handzeichen, da es mich unangenehm würgt. Sekunden später schlafe ich wieder. Das geht dreimal so weiter – ich kann per Handzeichen die Narkose selber steuern und höre zwischendurch immer wieder die Messbefunde der Ärzte, die von Pendelfluss, Blutjetgeschwindigkeit und Druckdifferenzen sprechen. Nach etwa zwanzig Minuten wird die Sonde wieder zurückgezogen. Ich darf endgültig aufwachen und Lob einstecken für vorzügliches Mitwirken. Ach wie gut das tut! Man zeigt mir noch am Bildschirm, wie das Blut nun erwiesenermassen nicht nur in eine Richtung fliesst, was die Aufgabe des Klappenventils wäre, sondern es fliesst nach jeder Systole ein messbarer erheblicher Bruchteil des arteriellen Bluts wieder in die linke Herzkammer zurück. Dieser Pendelfluss ich auch in der Leistenarterie nachweisbar, er erscheint hier allerdings durch die Dehnbarkeit der grossen Blutgefässe verstärkt. Ich liege in meinem Bett recht euphorisch und sage der Abteilungsschwester, es sein mir wie in einem Krimi vorgekommen, so spannend sei es gewesen. Mehr Wissen – weniger Stress ist bei mir offensichtlich die Devise.

Nun zapft man mir mehrmals grosse Blutproben ab, die Proben müssen für das ganze Blutvolumen repräsentativ sein. Man schüttet im Labor das Blut auf Nährböden und will es auf Bakterienwachstum testen. Bakterien wachsen auch nach Tagen keine aus meinem Blut. Die gefürchtete Endokarditis[vii] kann damit ausgeschlossen werden; meine Klappe ist zwar sehr verkalkt und verdickt, aber nicht von Bakterien befallen. Mein Fieber ist nicht auf Endokarditis, sondern auf die virale Darminfektion zurückzuführen.

Nach etwas Ruhezeit, in welcher noch ein Ultraschall vom Bauch und von den Halsschlagadern gemacht wird, alles ohne Befund, klingen meine Halsschmerzen ab, die vom dicken Tubus hervorgerufen wurden. Nun ist der Test mit Herzkatheter angesagt. Dieser wichtige Test ergänzt die Ultraschallfilme und dient der Operationsplanung. Man will insbesondere wissen, ob meine Herzkranzgefässe in Ordnung sind. Raffinierte Röntgenaufnahmen bringen dies an den Tag. Die schweren Röntenröhren und -kameras sind an riesigen kardanischen Ringen in alle Richtungen drehbar angebracht. Auf einer Wand von sechs Bildschirmen lese ich Bruno Fricker. Die gewaltige Maschine kennt mich schon, denke ich. Die rechte Leistenarterie wird vom versierten Kardiologen angestochen, eine Führungshülse wird eingeführt und am Bein befestigt. Der Katheter besteht aus mehreren flexiblen Schlauchstücken, durch welche Kontrastmittel ins Blut gepumpt werden kann, das die Blutgefässe lokal röntgendicht macht und dunkel abbildet. Zuerst sondiert der Arzt die drei grossen Herzkranzarterien, deren Zugänge an der Aortenklappe liegen. Offenbar gelingt es, das Kontrastmittel in diese Gefässe gezielt zu injizieren. Es entstehen drei schöne Gefässabbildungen, Angiografien, die ich ohne weiteres im Salon aufhängen würde, denn sie gleichen wunderbar verästelten Wurzeln, die übrigens ganz gesund sind. Eine weitere Ressource für eine gute Operation kann man damit abhaken. Schliesslich wir im Aortenbogen, wo die Arterie bis zu 4 Quadratzentimeter Querschnitt hat, Kontrastmittel injiziert. Die Aorta wird heiss und zeichnet sich dunkel ab. Mit jedem Herzschlag (Diastole) füllt sich die linke Herzkammer ebenfalls mit Kontrastmittel, nach drei Diastolen ist die Herzkammer ebenfalls schwarz. Es fliesst also massiv arterielles Blut in die Kammer zurück. Eine schwere Undichtigkeit (Insuffizienz) der Aortenklappe kommt nun erwiesenermassen zum Vorschein. Sie ist ein weiteres Kriterium, um nicht länger zuzuwarten. Dies alles wird mir vom Kardiologen nach dem Untersuch als Video vorgeführt. Das beeindruckt mich sehr.

Ein letztlich entscheidender Untersuch zielt auf die Belastungsfähigkeit des Herzens. Ich muss mich auf das Ergometer-Velo setzen, unter EKG-Überwachung und im Beisein des Kardiologen trete ich mit 65 Umdrehungen pro Minute tüchtig in die Pedalen. Die Bremse wird stufenweise angezogen, ich darf mit meiner Tretgeschwindigkeit nicht nachlassen. Es schaut gut aus, die Pflegefachfrau misst immer wieder den Blutdruck am Oberarm. Dieser erhöht sich belastungsabhängig. Die Beine schmerzen, als ich die meinem Körperbau entsprechende normale Belastungsgrenze erreiche. Plötzlich überfallen mich eine grosse Schwäche und Schwindel. Mit fremder Hilfe kann ich mich noch auf die benachbarte Liege legen. Der obere Blutdruck sackt auf nur 60 ab. Das EKG zeigt zwar keine Arrhythmie, aber eine Veränderung in den Kurvenbögen, das Herz pumpt anders als normal. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis ich wieder flott bin. Das ist also mein Herzproblem, denke ich, das mich bei Anstrengungen jederzeit wieder überfallen kann, wenn ich zuwarte.

Bald entlässt man mich aus dem Spital. Alle Daten sind nun erhoben. Ein wurzelbehandelter Zahn, der etwas vereitert ist, muss noch gezogen werden. Ein Lungentest wird noch ambulant gemacht: Meine Lunge ist tadellos, die Atemleistung sogar überdurchschnittlich, denn ich rauche nicht. Eine weitere Ressource vor allem für die Narkose höre ich vom freundlichen Pulmologen, und ich bin froh darüber. Die Kardiologen senden mir schriftlich das Aufgebot. Ein Datum für die Besprechung mit dem Chirurgen wird angesetzt. Ich freue mich, denn es ist ein jüngerer Chirurg mit einem eindrücklichen Leistungsausweis, insbesondere bei defekten Aortenklappen, für mich zuständig. Was bin ich doch für ein Glückspilz! Doch es kommt anders.

Am Tag vor der Besprechung sendet mir dieser lehrbeauftragte und forschende Herzchirurg die Nachricht, die Besprechung könne nicht stattfinden, denn er sei ausgerechnet jetzt als Chefchirurg an ein auswärtiges Kantonspital abberufen worden. Gleichzeitig lese ich in der NZZ, dass Zürichs Oberärzte und Leitende Ärzte im öffentlichen Spitaldienst im interkantonalen Vergleich am drittschlechtesten verdienen. Werde ich ein Opfer unsäglicher Zürcher Sparpolitik?
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[i] 60 Jahre glaubte ich, ein gesundes Herz zu haben
[ii] Blässe und schnelle Ermüdbarkeit, Atemnot, Schmerzen und Enge in der Brust (Angina pectoris), Schwindel und Kollapsneigung, unregelmässiger Puls, niedriger Blutdruck
[iii] www.jenavalve.de/index.php?id=Technology&subid=Product
[iv] Internetmeinungen, die Chirurgen haben sich bei mir zum Zeitpunkt dieser Niederschrift noch nicht dazu geäussert.
[v] www.sjm.de/patienten/herzklappenersatz.html
[vi] Luftembolien können tödlich sein oder im Hirn zu Lähmungen führen.
[vii] Grundsätzlich kann jeder Mensch an einer Endokarditis erkranken, und unbehandelt ist der Krankheitsverlauf meist tödlich. In Westeuropa ist die Endokarditis bei herzgesunden Menschen selten geworden und seit der Einführung von Antibiotika auch behandelbar. Eine erhöhte Gefahr, an einer Endokarditis zu erkranken, besteht jedoch bei Menschen mit angeborenen oder erworbenen Herzfehlern (insbesondere nach Herzklappenersatz). (Aus Wikipedia.)

1 comment:

Aurelia said...

Liebe Vati
Es isch dä helli Wahnsinn wie gnau du diini ganze Behandlige unter d'Lupe nimmsch. Ich bewundere das. Es gitt viili Lüüt, wo am liebschte gar nüt wänd wüsse, damit ihri Angscht vor dä OP nid ganz mit ihne durebrännt. Aber bi dier isch es genau umgekehrt. Ich bin froh, dass ich so en wissensgierige Vater han. Das isch total interessant. Vorallem chan mer dich immer um Rat fröge. Und s'Gueti isch, dass du nid eifach mit dä Antwort useplatzisch, sondern euis Wäg ufzeigsch wie mier zur Antwort chönntet cho. ;-) Bald häsch diini nächscht Besprächig und mich nimmts ja scho Wunder, was döt wiider alles usefinde wiersch. Aber däfür gahts jetzt langsam vorwärts.
Mach wiiter so, mit diine spannende Erlüterige. Freu mi scho uf diin nächschte Text...
Big hug
Diini Tochter Aurelia