Friday, June 1, 2007

In der Schlangengrube Äskulaps


Wer (wie ich) sein Leben lang auf sein gottlob gesundes Herz vertraut, sich nie schont und plötzlich die Diagnose «schwer Herzkrank - Operation unabwendbar» hört, erleidet zunächst einen Schock.[i] Erste Reaktion: «Ich hör' es wohl, allein mir fehlt der Glaube - an euch Ärzte!» Es kann doch nicht sein, dass dieses Herz mich 60 Jahre lang zuverlässig und ohne Krankheitszeichen[ii] mit dem roten Lebenssaft versorgte, und nun plötzlich die Aortenklappe nur noch ein Viertel (Befund A: Stenose) aufmachen und in der Gegenphase nicht mehr zuverlässig schliessen soll (Befund B: Insuffizienz). Diagnose A hat der Hausarzt nach wenigen Minuten des Abhorchens und Abtastens der Brust bereits richtig gestellt. Befund B ergänzt der Kardiologe in den Gardinen der Notfallaufnahmestation, nachdem er mich mit dem kalt gelierten Ultraschallkopf von aussen sondiert hat.

Diese Echokardiografie stellt die Ventrikel[iii] dar, misst Fliessgeschwindigkeiten; Druckdifferenzen zwischen linker Herzkammer und Hauptschlagader können dank Dopplereffekt[iv] quantifiziert, Pendelflüsse durch Farbumschlag sichtbar gemacht werden. Die Schulmedizin kennt sich hier aus, ich sei ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch. Eine solche Stenose kann entstehen, weil zwei der drei Klappensegel zusammengewachsen[v] sind. Die Klappe ist dann kein Mercedesstern, sondern ein abwärts gekrümmter Mund, vermutlich seit Geburt. Dass mein Herz mit Fischmund einem Fisch gleicht, der in seinem schlüpfrigen Beutel schon mehr als 2 Milliarden mal Blut erbrach, soll mich nicht wundern, da ich im Sternzeichen der Fische zur Welt kam... Aber Mutter Natur hat viele Wege, um mit einem solchen «Fisch-Herz» klarzukommen und den Fehler zu verstecken.

Im Herzmuskel steckt viel Kraft, ein höherer Kammerdruck ist dauernd herstellbar. Das Blut, statt im Sekundentakt herauszuglupschen, spritzt durch den engen Mund mit hohem Druck. Ein Strahl wie von einem gequetschten Gartenschlauch kann als eigentümliches Schwirren unter dem Kehlkopf ertastet werden. Eine solche Klappe allerdings verkalkt und versteift sich mit der Zeit, bevorzugt wachsen hier Bakterien in flottierenden Thromben[vi], die sich zuweilen lösen und etwa im Gehirn wichtige Areale verstopfen können. Der äussere Ultraschallbefund reicht für eine solche Diagnosestellung nicht hin. Auch kann damit die rasch tödliche Komplikation einer durch den Blutjet beschädigten Aorta nicht genügend abgeklärt werden. Ein Ultraschall-Echo wird an der fraglichen Stelle immerhin festgestellt.

Man fährt mich zum Cardio-CT[vii], wo ein Röntgenapparat in einem aufgestellten Ring rotiert und der Patient auf seiner Liege Zentimeterweise vorwärts und zurück manövriert wird. Über die Infusion wird Kontrastmittel von Schering ins Blut gespritzt, während die Kamera herumsaust und ich mit voller Lunge die Luft anhalten muss, die Arme über dem Kopf verschränkt. Durch Scherings Iohexol werden nicht nur die Gefässe wunderbar abgebildet, es wird auch der Brustkorb sekundenlang ganz heiss, doch dies ist nur eine Sinnestäuschung durch die Ausbreitung der für die Gefässe fremdartigen Substanz. Der heisse Schwall saust übrigens den Bauch hinunter und verliert sich innert weniger Sekunden zwischen den Beinen, wo er nochmals ganz heiss aufbraust. So zirkuliert das Blut in mir, denke ich ganz kühl, die Hauptsache gelangt in den Unterleib. Der Test erbrachte Entwarnung hinsichtlich der kritischen Frage eines Aortenrisses. Meine Aorta ist schön, die andern Gefässe in der Brust sind es auch, meine Herzmuskeln sind eventuell etwas vergrössert, so wie die Muskeln eines Bäckers anwachsen durch unablässige Beanspruchung beim Teigkneten.

Ich bin damit kein Notfall mehr, sondern Subjekt weiterer Differenzialdiagnosen. Der leitende Kardiologe, ein humorvoller Deutscher, bringt sieben Studenten der Uni an mein Bett, die mit Palpation und Auskultation die Hausarzt-Diagnose stellen sollten. Nur zwei haben es vermocht, ein Deutscher und ein Schweizer. Die andern, eine Afrikanerin aus Äthiopiens Berghütten, eine bildhübsche Tamilin, ein quirliger intelligenter Chinese, ein introvertierter Türke mit gepflegtem Bürstenschnitt und ein weiteres blauäugiges Nordlicht müssen noch gehörig dazulernen. Einmal mehr bin ich entzückt über die polyglotte Schweiz, wo die Uni den Tüchtigsten weltweit offen steht und wo unsere eigene alkoholisierte Handy-vor-der-Nase-Jugend massenhaft durch die ersten Medizin-Prüfungen gesiebt und in subalterne Berufe entlassen wird. Unser Hausarztproblem wird sich dennoch ohne weiteres lösen lassen: Die Pechschwarze wird statt in Afrikas Lehmhütten dereinst im Madranertal den verwaisten Hausarztposten übernehmen und der Chinese wird statt TCM am Jangtsekiang in Sternenberg den Puls fühlen und seine Befunde erst noch in Mundart verständlich erklären können. Wunderbar, wie weit die Integration der Ausländer im grossen Lehrkrankenhaus fortgeschritten ist: Ich schätze, dass gegen 80% Ausländer sind, quer durch alle Berufe und Chargen. Und ich fühle mich als medizin-kritischer[viii] Allgemein-Versicherter in diesem Spital sehr freundlich, menschlich aufmerksam und professionell umsorgt. Es fehlt mir hier wirklich an nichts.

Allein der Gedanke, dass demnächst mein Brustbein vertikal aufgesägt und der Altar meiner Brust mit Stahlzwingen geöffnet werden soll, ist mir ziemlich unerträglich. Mein Diagnose-Schock wird zunächst auf der untersten Verarbeitungsstufe, nämlich durch freundlich-kompetente Besprechung des mir Zugestossenen, gehörig gedämpft, ist aber noch nicht eigentlich aufgelöst.

Am Tag nach der Gardinen-Diagnose fühlte ich mich wieder blendend, wie nach einer Migräne. Die beiden Kardiologen sprechen an meinem Bett vom Herzkatheter-Test[ix], welcher der unmittelbaren Vorbereitung der grossen Herzoperation[x] dienen soll. Ich winke ab und sage ich wolle nach Hause, um eine Zweitmeinung einzuholen. Die Internistin und Stationsärztin, eine freundliche Hannoveranerin, gesellt sich hinzu, und ich versichere den Ärzten, dass ich alle messtechnischen Abklärungen dankbar ehre und für wahr halte, dass dies allerdings nicht die ganze Wahrheit sei. Die Heftigkeit meiner vegetativen Symptome mit Schwindel und Erbrechen sowie Bauchweh könnten aus der Aortenstenose nicht hinreichend erklärt werden, zumal weder Stress noch körperliche Leistung vorangingen. Ausserdem seien die vielen Blutdruckmessungen von Anfang an alle normal. Hierauf kann man mir nichts entgegnen, das Stillschweigen deute ich als Einverständnis. Man warnt mich aber vor Quacksalbern und reicht mir einen Zettel, auf dem ich per Unterschrift erklären muss, hiermit die volle Verantwortung für meinen Fall zu übernehmen. Dies ist meine Schockverarbeitung auf Stufe zwei, nämlich durch Kampf-Flucht-Reaktion. Ich unterschreibe unverzüglich und verlasse die Schlangengrube Äskulaps.
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[i] Die Vorgeschichte können Sie in diesem Blog lesen.
[ii] Ein asymptomatischer Verlauf macht die Aortenstenose besonders heimtückisch.
[iii] Herzkammern, Klappen und grosse Gefässe
[iv] Das Schallsignal wird als Pfeifton mit einer bestimmten Frequenz ausgesendet, es prallt auf ein bewegtes Hindernis; das Echo kommt mit einer veränderten Frequenz zurück; aus der Frequenzdifferenz wird die Bewegungsgeschwindigkeit des Hindernisses ausgerechnet. Der Dopplereffekt wird auch bei Skyguide für Flugzeugbewegungen, in der Radarfalle der Gemeindepolizei und in einem Teil der Lasermäuse angewendet. Siehe Wikipedia.
[v] man spricht von einen bikuspiden = zweizipfligen Klappe
[vi] Sie gleichen den Algen an einem alten Brunnenrohr; sie können Embolien, Infarkte, Thrombosen verursachen, wenn sie sich lösen und im Blutstrom mitgeschwemmt werden.
[vii] http://www.swissheart.ch/, die Patienteninformationen der Schweizerischen Herzstiftung sind äusserst informativ
[viii] Siehe www.psychofonie.ch/Humor.htm .
[ix] Reinhard Larsen: Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax- und Gefässchirurgie. Das Buch ist im Download bei http://www.ciando.com/ sofort verfügbar. Das Stichwort Herzkatheter kann in der Volltextsuche 44-mal im Kontext gefunden werden, worauf das Buch auch kapitelweise gekauft und als Pdf-File heruntergeladen werden kann.
[x] Helmut Baumgartner: Asymptomatische Aortenstenose. Wann soll man operieren? Wann kann man zuwarten? Herz 2006, 31, p.664-669.

1 comment:

Unknown said...

Hi,

jetzt weiß welche Prozeduren mir demnächst noch bevorstehen könnten. Die Story liest sich ein wenig wie aus einem „schlechten“ Sciencefiction Film. Du schreibst das zwar alles überwiegend sachlich neutral, aber für mich wäre so ein Erlebnis-Puzzle ein echter Albtraum.

Die Entscheidung sich das Brustbein komplett aufsägen zu lassen finde ich auch nicht besonders schwer. Ich hätte genauso reagiert wie Du.

Ich wünsche Dir viel Glück und noch mehr Gesundheit und die richtigen Ärzte.

Liebe Grüße aus Berlin