Tuesday, July 10, 2007

Ewigkeit

Bild 1: Meine halb verschlossene Aortenklappe vor deren Entfernung

Die Langeweile, die Kurzweil, die schnelle Zeit, die wie im Schlaf vergeht, aber auch quälend langsame, immerfort kreisende Szenen in Träumen sind uns allen wohl bekannte Erscheinungen unseres Zeitempfindens. In der grossen Narkose habe ich selbst, und alle der von mir befragten Leidensgenossen haben es bestätigt, die eigene Zeit als Zeitloch erlebt. Frühmorgens am Operationstag, noch auf der Bettenstation, erhalte ich das Einschlafmittel über die Infusion und bin in Kürze sanft entglitten. Nicht einmal die Fahrt in den Operationsraum nehme ich wahr. Im gleichen Augenblick jedoch, und das ist das Erstaunliche, ist die komplizierte Operation auch schon vorbei. Ich erwache sanft und ohne Missgefühle und freue mich am abendlichen Sonnenlicht und Blätterwerk draussen vor der Jalousie des Aufwachraums.

Bild 2: Meine neue Bio-Herzklappe nach Implantation; rechts die künstliche Blutversorgung in die Hauptschlagader durch die Herz-Lungen-Maschine
-------
Die theoretische Deutung des Zeitlochs in der Herzoperation ist nicht einfach. Die Zeitwahrnehmung wird hier sozusagen aus- und am Ende wieder eingeschaltet. Dazwischen liegt kein subjektives Zeitgefühl. Werden die dafür verantwortlichen Nerven-Kerne stillgelegt? Ist es ein tolerierter Nebeneffekt, oder wird es durch die Narkosemittel gezielt bewirkt? Dazwischen dreht der grosse Zeiger der Uhr (physikalische Zeit) mehrmals rundherum, in der die Chirurgen ganze Arbeit leisten.

Man kann es auch so beschreiben: Es ist wie ein langer Filmstreifen, aus welchem für mich mehrere Stunden herausgeschnitten und die beiden freien Enden zusammengeklebt werden. Das Drehbuch dieses Filmabschnitts zeigt sich mir nur noch in Form eines Operationsberichts und zweier Fotos, der alten und der neuen Klappe an meinem Herzen.

Eine grosse Operation an der Herz-Lungen-Maschine ist nicht eine gerade Einbahnstrasse, sondern eine Verzweigung. Eine geringe Anzahl derjenigen, die zeitlos hineinfahren, biegen ab in die Strasse, aus welcher man gar nicht mehr erwacht. Für Ärzte ist dies eine Art von Roulette, wo eine Raste mit Tod angeschrieben ist. Es ist immer möglich, sagen sie in ihren Publikationen, dass die Seelenkugel dort stehen bleibt. Wenn man zurück fragt, wie breit denn diese Raste sei, wissen sie es höchstens im statistischen Durchschnitt, wenn überhaupt. Jedes Herz ich nicht bloss ein Körperorgan, es ist ein eigenes Wesen mit seinen inneren Werten, Ordnungen und Gesetzen.

Gross war die Anteilnahme der Familie, meiner Freunde und vieler lieber Bekannter, die mir Glück wünschten; und viele beteuerten, in Gedanken und in Gebeten (auch islamischen) an mich zu denken in der Hoffnung, dass mir die Todesstrasse nicht bestimmt sei. Obgleich ich lieber Glauben durch Naturwissenschaft ersetze wo, diese anwendbar ist, rührte und rührt mich dies sehr, und ich danke allen für die überwältigende und hoch wirksame Anteilnahme an meiner Achterbahnfahrt. Meditative Selbsthypnose akzeptiere ich wohl und kenne sie insbesondere in Form der Psychofonie. Offen gesagt weiss ich nicht, was es heisst, den Himmel mit den eigenen inneren Augen zu schauen. Ich habe nie das Wort Gottes direkt gehört oder Engel gesehen. Deshalb greife ich lieber zu Büchern und Texten über den Himmel. Rilke etwa hat es mir sehr angetan.

Schliesslich bleibt die Musik, dieses unergründliche Wesen, das alles zusammenzufassen scheint; kaum auszudenken, wenn ich auf die Musik, auf Beethoven, Chopin, Brahms, Rachmaninov und wie sie alle heissen, verzichten müsste. Musik ist das Medium, das ich innig teile mit meiner engsten Beziehung, derjenigen zu meiner geliebten und starken Frau. Gerade jetzt habe ich erfahren, welches Himmelsgeschenk sie in meinem Leben ist. Unverdientes Glück! Vielen meiner Mitpatienten müssen auf ein solch intensive Anteilnahme und Genesungshilfe verzichten und erfahren ihre Einsamkeit jetzt umso schmerzlicher.

In diesen langen Tagen und Nächten nach meiner Herzoperation denke ich oft zurück bis in die eigene Kindheit. Auch ich wurde als Kind getauft und bin vor Jahrzehnten von meinen Eltern in christlicher Auferstehungshoffnung erzogen worden. Es liegt mir deshalb nicht fern, diesen Glauben mit der tatsächlich erlebten biologischen Zeitlosigkeit gedanklich zu verbinden. Man kommt dann zum überraschenden Schluss, dass die Auferstehung für alle Verstorbenen zu einem einzigen Zeitpunkt stattfindet, nämlich im zeitlosen grossen JETZT.

3 comments:

Aurelia said...

Lieber Vati!
Wie gesagt, so getan. Ich habe deine Zeilen gelesen und sie haben in mir eine innige Wärme ausgelöst und zwar weil du dein Innerstes preisgibst. Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, dass mein lieber Vater es zustande bringt, auf diese Art und Weise seine Gefühle auszudrücken, geschweige denn, dies überhaupt zu tun. Ich hoffe, dass ich dich mit diesen Worten nicht allzu gekränkt habe, aber ich habe dich als einen in sich gekehrten Vater in Erinnerung. Wie es scheint, hat diese Operation in dir vieles veränderet. Nicht nur in dir, sondern auch in mir und den anderen Menschen um mich herum. Sie hat mir gezeigt, dass unser Leben an einem seidenen Faden hängt und wir Letzteres so gestalten sollten, dass jeder gelebte Tag ein geschenkter Tag dazu ist. Auch ich bin mit dem christlichen Glauben aufgewachsen und auch unter diesem Glauben getauft worden. Leider habe ich den Zugang dazu schon vor langer Zeit verloren. Dir Vati gönne ich es sehr, wenn du den wissenschaftlichen Teil in dir mit einem gläubischen Teil verbinden und ergänzen kannst. Natürlich blickst du jetzt ganz anderst in diese Welt - eine Welt voller schöner Dinge (wie bspw. der Säntis vor deinem Fenster). Man muss gar nicht weit suchen, um diese Schönheiten zu finden. Leider halten wir Menschen lieber am Negativen fest, um es uns einfach zu machen. Dabei würde die Welt innert kürzester Zeit anderst aussehen, wenn nur ein Bruchteil der Menschheit aufsteht und sagt: "Ab heute halten wir am Positiven fest!". Daher haben mich deine Worte berührt, du siehst nun das Positive und hälst daran fest. Vorallem in Bezug auf deine Liebe zum Mueti. Dass diese Liebe noch stärker und bewusster geworden ist. Du und Mueti, ihr seid mein Vorbild. Eine solch starke Beziehung und Liebe ist auch für uns Kinder ein wunderbares Geschenk. Man schaue nur einmal um sich herum - zerbrochene Ehen und Beziehungen, kaputte Kinder und Eltern, zerrissene Familien. Ich danke wem auch immer und natürlich euch, dass ich in einer solch intakten Familie und mit einer liebevollen (zum Teil auch strengen) Erziehung aufwachsen durfte. Mein letztes Wort für heute: "Vati, ich han dich ganz fescht gern!" Deine Tochter Aurelia

Ursula Fricker said...

Was soll ich dazu als Frau und Mutter sagen? Du, liebster Bruno und ich haben es gut. Unsere Kinder lieben uns und sind für uns da. Das ist für mich nicht selbstverständlich. Auch unsere Schwiegertochter und unser Schwiegersohn kümmern sich um uns. Der Freund von Aurelia und jener von Antonia fühlen sich in unserer Familie wohl. Die Familie von Alparslan in der Türkei steht als muslimische Familie mit ihren Gebeten hinter uns, die wir den christlichen Glauben vertreten. Ich denke, das war und ist es, was Jesus wollte: Hüben und drüben Menschen, die dem Menschen - welchen Glaubens auch immer -zugetan ist, ihm hilfreich zur Seite steht, ihn auf irgendeine Weise unterstützt, einfach für den Nächsten in dieser Welt da ist. Wir müssen uns gegen die vorgefassten Meinungen von Päpsten, Obrigkeiten etc. vehement zur Wehr setzen. Siegen wird zuletzt allein die Liebe, denn nur sie hat die Kraft, das Irdische zu überwinden. Das müsste ja ein kleinlicher Gott sein, der nur katholische Christen in den Himmel aufnimmt, wie dies der jetzige Papst den Leuten weismachen will, indem er sagt, dass nur der katholische Glaube der wirkliche christliche Glaube ist. Aber eben, wer die Macht anstrebt, muss das Volk für dumm verkaufen.
Ich bin sehr glücklich, dass du, lieber Bruno die Operation und all die Rückschläge, die damit verbunden waren, gut überstanden hast - sicher auch dank der vielen guten Gedanken, die dich in dieser schweren Zeit getragen haben.
In Liebe, Ursi

Michael G said...

Lieber Hr. Bruno Fricker!
Seit einiger Zeit verfolge ich schon Ihre tiefsinnigen und schönen Tagebucheinträge.
Hierher gefunden habe ich durch eine Blogsuche nach Bruno Gröning, der mich mit seiner Lehre und seinem Sein begleitet.

Auch ich, nein, vielmehr meine herzenstiefe Freundin Juna und ich, lieben die Gedichte von Rilke. Nicht alle, aber die ganz besonderen. Und ein solch besonderes Gedicht hat Juna gerade wieder gefunden und ich möchte es Ihnen hier sogleich weiterreichen und wünsche Ihnen alles Gute für Ihr weiteres Leben. Möge es erfüllt sein und bunt wie Ihre Gedanken. Auch ich bin einen langen und gesundheitlich schweren Weg gegangen, der sich in einer wunderbaren Herrlichkeit und Leichtigkeit entfaltet und zu einer Landschaft voller Ideen und Träume, voller Leben und Hochsinn geweitet hat.
Alles Liebe, Michael Gasperl


Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem? -
Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
und das willig Liegende verschwimmt -
Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; -
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.
Rilke

Aus dem Sterneninnenraum von Juna. http://juna-weltinnenraum.blogspot.com/