Tuesday, July 3, 2007

In der Schlangengrube Äskulaps II

Fluchtartig verliess ich also das städtische Spital und versuchte die Schlangen Äskulaps wie böse Träume abzuschütteln. Weder ein Quacksalber noch ein Kardiologe, sondern der Hausarzt brachte mir dann die Zweitmeinung ins Haus. Schliesslich aber wurde mir klar: die Herzoperation muss sein. So stellte ich mich gefasst und gut vorbereitet dem Gespräch mit meinem Chirurgen. Dieses beginnt mit einer Überraschung.

Die Schriften der Schweizerischen Herzstiftung[i], die im Spital den Herzkranken abgegeben werden, empfehlen den Patienten in meinem Alter die künstliche Herzklappe aus Carbonfasern. Sie ist im Blog unten abgebildet. Da mechanische Herzklappen normalerweise keine strukturellen Veränderungen erleiden, werden Sie bei 60-jährigen bevorzugt eingesetzt. Sie verlangen jedoch eine lebenslange antikoagulatorische Therapie[ii] aufgrund ihrer starken thrombogenen[iii] Eigenschaften. Nachteil: Das Blutungsrisiko nimmt damit zu. Es steigt mit zunehmendem Alter, was insbesondere für das Hirn fatal sein könnte. Das bekannteste Medikament Marcumar hat in der Praxis überdies noch weitere Nebenwirkungen[iv], die es nebst Beipackzettel zu bedenken gilt.

Die Überraschung besteht darin, dass mir mein Chirurg eine biologische Klappe empfiehlt. Ich war auch darüber bereits aus dem Internet informiert und entgegnete, dass ich in diesem Falle in zirka 15 Jahren nochmals zur grossen Herzoperation antreten müsse. Der Chirurg hatte dagegen nichts einzuwenden. Er schätzte das Risiko einer zweiten Herzoperation geringer ein als das Risiko einer lebenslangen Blutverdünnung. Biologische Klappen, modelliert aus dem Herzbeutel des Rindes (Pericard), oder echte Schweineklappen, die in einem Gerüst befestigt und am Ausflusstrakt der linken Herzkammer eingenäht werden, neigen genau so zur Verkalkung wie meine angeborene Herzklappe. Ihre Lebensdauer ist infolge dieser Abnützung beschränkt. Je nach Studie findet man Werte von 10 - 25 Jahren.

Der entscheidende Vorteil biologischer Herzklappen liegt in der geringen Thrombogenität4, die eine lebenslange antikoagulatorische3 Medikation entbehrlich macht. Auf Patientendeutsch heisst das, wenn die Operation gelingt, kannst du die Klappe lange Zeit vergessen. Man empfiehlt mir die porcine Mosaic Bioprothese von Medtronic[v], die in der dritten Generation mit Antimineralisationsbehandlung erhältlich ist. Hiermit steigt die Aussicht auf ein nicht eingeschränktes, selbstvergessenes Leben. Klar, dass dies die Krönung jeder chirurgischen Massnahme ist. Florian Botzenhardt hat dieser Prothese seine Doktorarbeit gewidmet. Diese ist sehr aufschlussreich für mich und motiviert mich, dem Antrag des Chirurgen stattzugeben. Ich habe mir schon vorgenommen, 15 Jahre lang wenig Schweinefleisch zu essen, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass ein extra dafür gezüchtetes Säuli sein Leben für mich lassen musste.

Auch auf das Gespräch mit der Anästhesiärztin habe ich mich im Internet vorbereitet. Ich frage sie, welche Blumen sie mag. Ich werde ihr einen grossen Strauss Lieblingsblumen schenken, wenn meine intellektuellen Funktionen und insbesondere das Gedächtnis nicht abnehmen, immerhin habe ich solche Berichte in meinem Bekanntenkreis gehört. Ein maximaler Schutz des Hirns ist für mich einer der wichtigsten Gesichtspunkte in der bevorstehenden Herzoperation. Ich lese[vi] andererseits, dass die untere kritische Grenze des zerebralen Perfusionsdrucks, bei der mit Hirnischämie und neurologischen Schäden gerechnet werden muss, nicht bekannt ist, und ähnliches. Offenbar stossen die sonst klar strukturierten Verfahren in der Anästhesiologie ausgerechnet beim Hirn an eine Grenze, wo grosse Erfahrung und zuweilen eine geradezu artistische Interpretation der zuständigen Ärzte erforderlich ist. Die indirekten Kriterien der Narkosetiefe wie Pupille, Schwitzen im Gesicht und Tränenfluss, Blutdruck, Puls, Muskelspannung stehen mit dem Zielorgan Gehirn bzw. mit der dynamischen Hirntätigkeit, die sich nur im EEG zeigen kann, in einem nur lockeren Zusammenhang. Dies trifft insbesondere zu bei tiefer Körpertemperatur von gegen +30 Grad in der Bypass-Phase, wo das Herz abgestellt ist und durch die Herz-Lungen-Maschine ersetzt und auf etwa +15 Grad gekühlt wird.

Neuerdings hat sich ein EEG-basiertes Hirnmonitoring durchgesetzt, womit man dem Patienten Schmerzempfindungen während der Narkose ersparen will. Intraoperative Schmerzempfindung ist zwar selten, können dann aber zu schweren psychischen Störungen führen. Auch kann man durch ein EEG-Monitoring während der Operation subtileren Hirnschädigungen zuvorkommen, die durch mangelhafte Durchblutung und Sauerstoffversorgung entstehen können. Zur Ausstattung vieler Operationssäle gehört seit kurzem der so genannte BIS-Monitor.[vii] Der Name kommt vom Bi-Spektrum, welches hier aus dem Stirn-EEG berechnet wird und relativ zuverlässige Schätzungen der zerebralen Narkosetiefe ermöglicht.

Das Bispektrum wurde am EEG ab 1970 weltweit erstmals in der Zürcher Uni-Kinderklinik von Guido Dumermuth berechnet, auf zimmerfüllenden Computern. Ich habe damals dort meine Diplomarbeit über «EEG-Analysatoren» gemacht, wofür mir 8 Kilobyte auf demselben DEC-Computer zur Verfügung standen. Heute hat man 100'000 Mal mehr in einem gewöhnlichen PC-Arbeitsspeicher(!) Später baute ich die ersten EEG-Analysatoren für das Neuromonitoring, die in Zürich und Bern eingesetzt und in Einbeck[viii] den deutschen Anästhesisten vorgetragen wurden. Leider war die Anästhesie in der damaligen Zeit noch nicht aufnahmebereit für eine derartige Technologie. Heute profitiere ich als Patient möglicherweise ganz entscheidend davon.
____________________
[i] http://www.swissheart.ch/
[ii] Therapie zur Blutverdünnung, Thrombosen-Verhinderung
[iii] Der mechanische Fremdkörper neigt zur «Verschlammung» in Form zusammengeballter Blutkörperchen; solche «Thromben» können sich lösen und werden in die verästelten Gefässe von Lunge oder Hirn geschwemmt, wo sie die Blutversorgung von wichtigen Funktionen abstellen können.
[iv] http://www.neben-wirkungen.de/, dort Medikament > Marcumar;
hier können Sie selbst Ihre persönlichen Erfahrungen mit einem Medikament eintragen.
[v] www.medtronic.com/cardsurgery/products/mosaic_index.html
[vi] Reinhard Larsen: Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax und Gefäßchirurgie. Springer-Verlag, 6. Aufl. 2005, 443 Seiten
[vii] http://www.aspectmedical.com/
[viii] Sertürner, Apotheker in Einbeck bei Göttingen, isolierte 1806 erstmals das Schmerzbetäubungsmittel Morphium aus Opiumsaft, einer der wichtigsten Leistungen der Pharmazie.

No comments: