Friday, September 28, 2007

Rehaklinik Zauberberg I


Noch vor meiner Herzoperation las ich rein zufällig Thomas Manns Zauberberg. Vielen ist dieser in 35 Sprachen übersetzte, millionenfach verkaufte Roman über die Davoser Lungenklinik bekannt, für Davoser und Kilchberger ist seine Lektüre Pflicht. Thomas Mann selbst erhielt dafür den Ehrendoktor für Naturwissenschaften von der Eidgenössisch-Technischen Hochschule ETH, 1955 in Kilchberg/Zürich, insbesondere für seine akribische Beschreibung der Medizintechnik vor dem ersten Weltkrieg mit der damals neuen Röntgentechnik, die im Zauberberg vor allem zur Sichtbarmachung des Lungenzustandes zur Anwendung kam. Auch in der heutigen Herzdiagnostik spielt das Röntgen-Brustbild eine wichtige Rolle. Die Klinik Gais, in die ich nach der Herzoperation eingewiesen wurde, besitzt auch eine derartige Apparatur, und zwar im Kellergeschoss, wo sie der Abschirmung halber schon damals im Zauberberg aufgestellt wurde. Die historische Fotoplatte ist heute durch den Flachbildschirm mit DVD-Recorder ersetzt. Wegen der langen Belichtungszeit war das schlagende Herz nur ein verwaschener Schatten; es wird heute als kontrastreiches Live-Video registriert.

Im Betrieb eines medizinischen Kurhauses vor hundert Jahren und heute gibt es auffallend viele Parallelen. Es ist nicht ohne Reiz, diese einander gegenüberzustellen.[1]

Damals im Zauberberg wie heute in Gais tragen zwei deutsche Ärzte die medizinische Verantwortung. Der eine, ein introvertierter Bartträger, kümmert sich um die seelischen Nöte; der andere, extravertiert und temperamentvoll, ist für die somatischen Erkrankungen zuständig. Im Zauberberg wurde die Tuberkulose kuriert, in Gais kümmert man sich vor allem um die am Herzen frisch Operierten. Beide Ärzte hielten und halten wöchentlich Vorträge für alle. Schon damals war es erstrebenswert, aufgeklärte Patienten heranzubilden. Heute ist dies in der spezialisierten Medizin offenbar noch wichtiger geworden. Die leitende Ärztin in Gais, Angelika Bernardo, schreibt in ihrem Buch[2] Herzklappe ein ganzes Kapitel über den operierten Patienten – Fachmann in eigener Sache. In der psychologischen Unterweisung standen damals die um den Sexus kreisenden Theorien von Sigmund Freud im Zentrum der Aufmerksamkeit und sorgten im Auditorium für deplaciertes Gekicher. Heute ist die Psychosomatik das im Trend liegende Fachgebiet, doch sorgt der Raucherpenis wie früher für kichernde Unruhe im Publikum, mit dem Unterschied, dass heute jemand zu fragen wagt, worum es sich hierbei handle.

Die Trennung der Zuständigkeiten beider leitender Ärzte ist übrigens rein praktisch begründet. In dieser Klinik für kardiale und psychosomatische Rehabilitation wird bei jeder Gelegenheit die Einheit der Menschennatur betont, die sich nicht in eine seelische und eine organische Abteilung auseinander dividieren lässt. So nehmen auch die mehr psychologisch Betreuten am vollen Sportprogramm teil, nach dem alten Leitwort mens sana in corpore sano. Umgekehrt haben Herz-/Kreislaufkrankheiten oft stressbedingte, mithin psychische Ursachen. Obgleich die Fachrichtung Psychosomatik in der universitären Medizin erst seit wenigen Jahren voll berücksichtigt ist, äusserte sich schon Thomas Mann vor hundert Jahren in diesem Sinne, indem er im Zauberberg über Sachverhalte berichtet, die sich auf dem Wege über das Seelisch-sittliche geradezu auf das physische und organische Teil des Individuums erstrecken mögen. Auch schreibt er über Schmerzen, die gleichzeitig physische wie seelische Ausdehnungen haben. Darüber, dass die meisten Krankheiten multifaktoriell bedingt sind, herrscht heute weitgehend Übereinstimmung. Über die Gewichtung psychischer und körperlicher Faktoren bei unterschiedlichen Krankheitsbildern gibt es jedoch immer wieder unterschiedliche Positionen zwischen somatisch orientierten Medizinern und Vertretern der klinischen Psychosomatik, denn der psychosomatische Ansatz trifft heute auf ein medizinisches System, das in vielen Bereichen noch dem Kausalitätsprinzip des kartesianischen Weltbilds folgt und einer Krankheit jeweils eine bestimmte Ursache zuzuordnen trachtet.[3] In der sehr erfolgreichen Klinik Gais, wo gleichberechtigt kardial und psychosomatisch behandelt wird, scheint man in dieser Hinsicht Marksteine zu setzen. [4]

Der langen Verweildauer der Patienten, nicht selten von Jahren, im Davoser Lungensanatorium entsprach der Zeitbedarf einer tiefenpsychologischen Analyse bestens, während heute dieselben Krankheiten in der medikamentös unterstützten Verhaltenstherapie offenbar in nur vier Wochen kuriert werden können. Damals konnten sich nur Gutbetuchte einen so langen Aufenthalt überhaupt leisten, wo heute eine krankenversicherte gemischte Klientel nach nur wenigen Wochen für den Alltag tüchtig entlassen wird. Gesunde Gäste übrigens waren früher ebenso willkommen wie heute, mit dem kleinen aber unfeinen Unterschied, dass damals der Röntgenarzt oder die Fieberschwester dazu neigte, Gäste in Kranke zu verwandeln, indem man die Ahnungslosen von den Segnungen eines Langzeit-Aufenthaltes zu überzeugen versuchte. So kam es, dass der Protagonist, der frischgebackene Schiffsbauingenieur Hans Castorp, vom gesunden Besucher zum Lungenkranken mutierte und im Zauberberg lange Zeit festgehalten wurde. Solches geschieht heute kaum noch, obgleich die barzahlenden Gäste auf Wunsch am vollen Therapieprogramm teilnehmen können. - Vergleichen wir im Folgenden einige interessante Einzelheiten damals und heute.

Sauerstoff zur Lungenunterstützung der Moribunden[5] musste damals für teures Geld in runden Flaschen bezogen werden. Heute wird es durch bauseitige Leitungen ans Kopfende der Spitalbetten geführt, worin nicht nur Sterbende liegen. In Gais wird anschliessend Atemgymnastik betrieben zur Entfaltung des durch Herz-Lungen-Maschine und Pneumothorax oftmals verkümmerten Organs. Begriffe wie Pneumothorax [6], Pleuraschock, Pneumotomie, Rippenresektionen und dergleichen werden von Thomas Mann rückhaltlos realistisch beschrieben. Sie können noch heute Betroffene gehörig schrecken; im Zauberberg erhöhten solche Erfahrungen am eignen Leib das soziale Ansehen im Sanatorium. Operationen dieser Art werden heute spitalseitig behandelt, sie spielen im Rehazentrum kaum mehr eine Rolle. Hingegen kursieren sie dort als Krankengeschichten, über die man oft und gerne spricht. Eine eigene, möglichst krasse Krankengeschichte ist auch heute für Neueintretende der beste Schlüssel für eine rasche soziale Integration. Sie kursieren etwa im Speisesaal, an den 4er- oder 6er-Tischen, und dienen, zusammen mit den mediterranen Leckerbissen, durchaus zur psychosomatischen Rekonvaleszenz.

Es werden in Gais Kategorien gebildet, Leistungsklassen etwa, Herzklappengruppen, Bypass-Operierte und andere. Ärzte kümmern sich um solche Gruppen speziell, Herzklappen-Probleme werden in der Klappengruppe intensiver diskutiert, man kann dort mit der Internet-Medizin brillieren und man lernt sich kennen. Dabei verkehrt man unter den Patienten in der Regel per Du, die zivilen Standesunterschiede und sozialen Netze zu Hause verblassen. Seine Therapieziele kann am besten erreichen, wer sich solcher Gemeinschaft nicht entzieht, sondern unterwirft. Dann spürt man die heilsame Gruppendynamik am eigenen Leib.
_____________________
[1] http://corpus.en.kyushu-u.ac.jp führt zu einer Thomas-Mann-Konkordanz einer Universität in Japan, die jedes Stichwort in seinem Kontext zeigt. Eine wunderbare Hilfe für meinen Vergleich!
[2] Angelika Bernardo (Hrsg.): Gut leben mit der neuen Herzklappe. Trias – Stuttgart, 2002, 228 S.
[3] Siehe auch Psychosomatik in Wikipedia.
[4] Über die Geschichte der Psychosomatik in der Schweiz berichtet in Form eines elektronischen Buches www.sgppm.ch/adei.php?go=geschichtede
[5] Hinter den Türen, vor denen solche Ballons standen, lagen Sterbende oder «Moribundi», wie Hofrat Behrens sagte (Zitat aus Zauberberg). In Gais gibt es selten Moribunde.
[6] Historisch ist der künstlich angelegte Pneumothorax als Therapieverfahren bei der Lungentuberkulose bekannt.

No comments: