Friday, September 28, 2007

Rehaklinik Zauberberg II


Dem Auf und Ab einer fiebrigen Lunge im Zauberberg[1] entspricht in der kardialen Rehaklinik die immerfort drohende Herzrhythmusstörung, insbesondere der Herzinfarkt. Mit einem Arsenal fallweise verordneter Arzneien für die Rhythmuskontrolle, Betablockern, Lipidsenkern, Antikoagulazien, Digitalis-Extrakten und Nitraten verfügt die Klinik über eine einmalige Kompetenz. Nützen die Arzneien nichts, so schreitet man weiter zu einer elektrophysiologischen Schocktherapie, der so genannten Elektro-Kardioversion, die unter Narkose durchgeführt wird. Das Herz wird für Augenblicke stillgelegt. Erfahrungsgemäss springt das unbotmässige Herz nach ein, zwei oder drei gewaltigen Schlägen in den normalen Rhythmus um, Tachykardien verschwinden sofort. Ob dieser Sinusrhythmus persistiert oder ob das ungeregelte Rumpeln im Brustkasten nach Tagen oder Wochen wiederkehrt, bleibt allerdings eine bange Frage so mancher rasch Entlassener. In Davos kehrten zu früh Entlassene rechtzeitig zurück, oder sie verstarben in der feuchten Tieflandluft. Auch in Gais[2] soll es eine wiederkehrende Klientel geben, sie ist aber nicht die Regel, weil man geradezu beschwörend eine individuell eingestellte, Rückfälle verhindernde Austrittsrezeptur verordnet, die, zusammen mit Verhaltensvorschriften, oft lebenslang beachtet werden muss.

Kranke Kurgäste aus aller Welt trafen sich im Zauberberg: Russen, Holländer, Spanier, Italiener, Griechen, viele Deutsche und Österreicher, genau wie heute, wobei ich in Gais überdies einen Inder und eine Amerikanerin ausmachte. Die pflegenden Fachfrauen bestehen heute aus einer gepflegten Frauengruppe in weissen Uniformen, die von einer mit schulterlangem hellblonden Haar dekorierten, äusserst rasch und präzis arbeitenden Oberpflegerin angeführt wird. Eine Tafel zeigt die Portrait-Fotos dieser Truppe, deren Namen vorwiegend auf «-ic» enden. Ob sich Thomas Mann wohl die Arbeit vereinfachte, indem er nur eine Krankenschwester portraitierte, eine schwarz eingekleidete mit weisser Haube, mit einer rauen Schale gepanzerte Diakonissin, eine in allen Krankengeschichten erfahrene Person, deren Loyalität zum Zauberberg sich nicht zuletzt in einer auffälligen Geschäftstüchtigkeit entpuppte. Sie verkaufte Fieberthermometer alias Quecksilberzigarren sogar den Gästen. Gegen beschönigendes Ablesen gab es die stumme Schwester, ein Thermometer ohne Gradeinteilung, nur die Schwester hatte eine passende Ableseskala in ihrer Tracht. Heute kaufen wir Blutdruck- und Quickmessgeräte für den beruhigenden Eigengebrauch in den Selbstbedienungsregalen der Epigonen Duttweilers. Gotteslohn oder Hungerlöhne gegen eine trügerische soziale Sicherheit sind die gemeinsame Grundlage dieser durch ihren Sinn geadelten Anstellungsverhältnisse, damals wie heute.

Am Klinikeingang gab und gibt es die Concierge-Loge, wo die Post in Fächern verteilt wird, mit einem kleinen Nebengeschäft in einem Kiosk, der Zeitungen, Bücher, Vortragsmanuskripte, Toilettenartikel, Papeteriewaren, Süssigkeiten und sogar Sylvesterscherze und Vulkane für den Nationalfeiertag feilbietet. Heute liegen grosszügig alle relevanten Tageszeitungen der Gegend und die wichtigsten Presserzeugnisse der Schweiz gratis zum Lesen an Ort und Stelle auf. Ein einziger Unterschied, der auf evidenzbasierter Medizinforschung beruht: Zigarren, wie sie im Zauberberg trotz verkäster Lungen grosszügig angeboten wurden und die auch Thomas Mann olfaktorisch inspiriert haben – übrigens auch ein psychosomatischer Effekt – sind heute als extrem herzgesundheitsschädigend tabu. Den bedauerlichen Tabaksüchtigen und Genussrauchern ist das Rauchen nur noch auf einer harten Sitzbank im Beton der Autounterstände erlaubt, die Tür dazu ist freilich auch des Nachts geöffnet. Und so sitzt dort immer ein verschworenes Grüpplein Inhalierender mit einem sehr schlechten Gewissen. Nachts tanzen rote Irrlichter ab und auf.

In einem gepflegten warmen Hallenbad vermittelt heute Wassergymnastik bei flotter Musik das höchste aller therapeutischen Gefühle. Im Berghof waren es streng verordnete stille Liegekuren an roborierender Bergluft auf endlos langen gedeckten Balkonen; die Liegezeiten waren auch bei schlechtem Wetter und bei starken Minustemperaturen strikt einzuhalten. Wärme holte man sich aus dem eignen im persönlichen Bärenfell verpackten Körper, insbesondere aus dem immerfort verdauenden Bauch. Auf die Atemwege, die Lungenentfeuchtung und auf die vegetative Regulation kam alles an, und auf den unbändigen Davoser-Appetit, der in 5 Mahlzeiten befriedigt wurde. Sport wurde eher klein geschrieben, er diente höchstens der Abwechslung und dem Vergnügen, wogegen die Kuren heute überwiegend Sport- und Wellness-Kuren sind, seit man durch unzählige doppelt blinde Studien weiss, wie viel nachhaltige Gesundheit passend dosierter Sport in kardiovaskulär Erkrankten aufzubauen vermag. Überhaupt waren die Zimmer damals für heutige Wellness-Bedürfnisse viel zu kalt. Damit im Winter das Waschwasser im Keramikkrug nicht gefror, behalf man sich mit zentral befeuerten, knackenden Dampfradiatoren. Ich bewegte mich in Gais auf nur 1000 m.ü.M. im Juli. Sogar dann wurde die Heizung vorübergehend immer wieder eingeschaltet.

Auf das Essen wurde und wird grössten Wert gelegt, weil es für das Gesundwerden und Gesunderhalten durchaus notwendig war und ist, freilich heute mit veränderten Prinzipien. Damals wurden drei opulente Hauptmahlzeiten gereicht, wie sie schon in Buddenbrooks beschrieben sind, ergänzt durch zwei im Speisesaal einzunehmende Zwischenmahlzeiten, also fünf Mahlzeiten insgesamt. Heute wird kalorienbewusst aufgetischt, die Zusammensetzung der Tellerinhalte ist nach einem ausgeklügelten System auf jeden Kurgast abgestimmt. Mein Zimmerkollege erhielt Diabetes-Diät. Nachschöpfen ist in der Regel nicht für alle Speisen erlaubt; die Küche schöpft nach und man trägt fertig beladene Teller in den Speisesaal. Für die empfohlenen Znüni und Zvieri wird am Frühstücksbuffet Extraobst gereicht. Mittelmeerkost heisst das Zauberwort für Herzpatienten, denn die Mittelmeerbewohner leiden ihrer Ernährung wegen weniger an Herz-Kreislaufkrankheiten.

Hans Castorp atmete am Waldrand im Zauberberg tief die reine Frühluft, diese frische und leichte Atmosphäre, die mühelos einging. Die moderne Klinik liegt inmitten landwirtschaftlich intensiv genutzter Grasparzellen. Sie werden von Bauern bewirtschaftet, denen es offensichtlich keine Herzensangelegenheit ist, den Herzkranken zu hofieren. Ich habe eine Geruchsattacke erlebt, die ich ihrer Schärfe wegen schon fast kriminell nennen müsste, weil vor dem Wind nicht-desodorierte Schweine-Jauche ausgebreitet wurde, worauf die Terrasse des Klinikrestaurants fluchtartig geräumt und die Türen rasch verschlossen werden mussten. Leider sandte der Himmel auch keinen Regen übers Land; es stank tagelang durch alle Ritzen. In der Klientel des Kurhauses regte sich grosser Unwille. Nicht genug: Hinter dem medizinischen Trakt befindet sich im Abhang eine Grasterrasse, auf der täglich Morgenturnen mit Stock vor dem Frühstück angesagt ist. Ich habe beobachtet, wie der Landwirt bis hart an den herrlichen Platz die Jauche ringsherum austrug. Nun gibt es eine Zeitlang kein Entrinnen mehr, jeder muss morgens bei Turnübungen die bäurischen Fäkaliengase kräftig inhalieren. Unbegreiflich, da es doch die geruchsfreie Gülle gibt.[3]

So hat jede Klinik ihre Vorzüge und Nachteile, heute wie vor hundert Jahren. Überblickt man das ganze Geschehen, kann man der heutigen, evidenzbasierten[4] Rehabilitation ein Kränzchen winden. Für den Herzpatienten sind die Fortschritte durch Kraftgewinn und Ausdauer in der Regel täglich spürbar. Bald wird man in die oberen Stockwerke zu den tüchtigeren Leidensgenossen, zu den beinahe Gesunden umquartiert, die sich als noch Gestörte erweisen, weil sie, statt den Lift zu nehmen, wie wild die Treppen rauf und runter sausen. Der dreimal tägliche Blutdruck/Puls-Rapport im Pflegezimmer findet nur noch einmal statt. Die geführten Wanderungen von einer knappen Stunde dehnen sich nun auf vier oder mehr Stunden aus, und dies bei jedem Wetter. Man wird forciert, wo es drinliegt, und kann entspannen durch etwas Ruhezeit, mehrmals täglich. Und man wird persönlich abgestuft ausgelastet und dabei sorgfältig überwacht, auf Schritt und Tritt professionell beraten.

Dieser Prozess ist messbar, er wird in zahlreichen Protokollen festgehalten. Was früher der Geheimrat über seine Krankenschwester anordnete, darum kümmert sich heute ein eingespieltes Team, von der Zimmerfrau bis zum Verwaltungsdirektor, von den Vorturnerinnen bis zum Sportlehrer, von der Küchenangestellten bis zum Chefarzt. Hinter den Kulissen arbeiten EDV-Spezialistinnen, die man nie zu Gesicht bekommt, auf der Grundlage der ständig erhobenen Befunde und Messdaten, an ausgeklügelten Programmen und persönlich abgestimmten Einsatzplänen. Heute könnte sich ein mehrjähriger Kuraufenthalt niemand mehr leisten; in den kassenpflichtigen vier Wochen im Appenzellischen wird indessen mehr erreicht.
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[1] Zauberberg, Roman von Thomas Mann über ein Davoser Lungensanatorium vor 100 Jahren.
[2]
www.klinik-gais.ch Herz-Rehaklinik im Appenzellerland
[3] Rüprich, W. (1980): Geruchsfreie Gülle. DLG Verlag Frankfurt
[4] www.evimed.ch hat die Fachkompetenz zur Bewertung klinisch-medizinischer Informationen für die Praxis.

1 comment:

katze said...

Notbetten im Gang in den Krankenhäusern, Warteschlange bis auf die Strasse hinaus am Wochenende bei den Notdiensten, so ist derzeit die Situation im Gesundheitswesen. auch andere Bereiche, wie Apotheken und Optiker sind ausgelastet. Viele Arztpraxen und Krankenhäuser nehmen derzeit kaum noch Kassenpatienten auf. Die Praxen und Kliniken gehen dabei sehr nach dem Geld, obschon gerade ja auch die, die viel Geld haben, eventuell auch viel von anderen holen. In heutiger Zeit Eigentum zu haben ist nicht nur Glück, vielleicht sind auch teilweise unsaubere Geschäfte dabei, wie Handel mit Drogen, und Ausbeutung von anderen. Ärzte geben als Grund für überfüllte Praxen und Misständen in Krankenhäusern eine Form von falscher CDU Politik an, die ihrer Ansicht nach immer mehr krank machen würde. Einige von Ihnen, wie auch das Klinikpersonal sind konkret gegen die CDUCSU.
Vieles wird in der Behandlung auch aufgrund unterschiedlicher Krankenversicherungen anders behandelt. So erhält der eine Patient eine gute Behandlung, und andere wiederum gehen leer aus. Speziell auch mit Impfungen und der Behandlung der Zähne wird das unterschiedlich gehandhabt. Vieles im bereich der Behandlung der Zähne wird nicht übernommen.