Tuesday, December 25, 2007

Marathon-Gebrauchsmusik

Schon der Rattenfänger von Hameln wusste, dass Musik mobil macht. Indem er sich anerbot, mit seiner Flöte die Stadt von den aufsässigen Nagern zu befreien, erwies er sich als Meister in einer besonderen Gebrauchsmusik: Wie auf Kommando huschten alle Ratten und Mäuse aus ihren Löchern dem musikalischen Entführer nach. Sie folgten ihm sogar in den benachbarten Fluss, wo sie elendiglich ertranken. Später waren es dann die Kinder der Stadt, die der Musiker betörte und entführte, aus Rache, weil man die Wirkung seiner Musik gering schätzte und ihn für die klingende Schädlingsbekämpfung nicht wie versprochen bezahlen wollte.[1]

Wer Waffengefährten rekrutieren will, muss zur Trommel greifen. Jeder Armeekommandant weiss um die wesensverändernde Kraft flotter Musik. In jedem Polizeikorps, sogar in Feuerwehren, erklingt Brass- und Jazz-Musik, um die Sinne zu aktivieren und um die Beine bei Bedarf in Bewegung zu versetzen. Der Extremkletterer Oswald Oelz summte stets einen Ohrenwurm, eine innere Melodie, die sich immer dann einstellte, wenn er mit besonderer Kraft und Ausdauer stundenlang stiegt. In den Baumwollfeldern der Südstaaten wurden a capella Worksongs skandiert.[2] Rhythmus stärkt den Arbeitseifer, den Korpsgeist oder gar den Kampfgeist, je nachdem. „Musik macht für viele das Laufen zur Lust“, titelt die NZZ.[3] An Volksläufen ist die Begleitmusik im Kopfhörer ein hierzulande toleriertes Motivationsmittel. Es macht die verbissene Lauf-Plackerei erträglich. Musik treibt an und verhindert, zu sehr auf seinen Körper zu horchen, der in Grenzsituationen nur zu gerne Übungsabbruch signalisiert. Musik am Marathon bewirkt eine völlig unbewusste Regularisierung autonomer Körperfunktionen, wodurch sich die Belastungsgrenzen erweitern lassen.

Mister Sony erschloss 1979 ein riesiges Konsumpotential, als er den Walkman erfand. Wer damals mit einem Kopfhörer herumlief, wurde anfangs belächelt, dann kopiert. Die Jungen entdeckten, dass in ihren Lieblingssongs eine Kraft steckt, um im Dschungel der Grossstadt mobil, bei Laune und bei sich selbst zu bleiben. Die Mikroelektronik verzehnfachte den Trend: Dank Internet, digitaler Kompression (MP3) und Miniaturisierung (iPod und ähnliche MP-Player) ist der persönliche Rhythmus heute überall wie Luft zum Atmen verfügbar. Heerscharen normaler Menschen wollen nicht mehr darauf verzichten – weil ihnen das Musikhören, das Hereinziehen der persönlichen Chillout-Melodie gut tut.

Übrigens: Psychofonie-Klangfolgen erweitern das Regenerations-Instrumentarium beträchtlich, denn die vom eigenen Ruhe-EEG abgeleiteten Klangfolgen erweisen sich als besonders wirksam, sogar bei Schmerzen, Migräne, nervösen Magendarmstörungen, Angstzuständen, Schlaflosigkeit und Ähnlichem.

Und nun soll in den USA – man lese und staune – die persönliche musikalische Konditionierung in Volksläufen verboten werden. Läufer, die mit dem Knopf im Ohr erwischt werden, sind disqualifiziert.

Wer bekämpft(e) die Taliban? – Und was hatten diese Fundamentalisten verboten? Das Musikhören! Und nun kommt von der Anti-Taliban-Kultur das Musikverbot hausgemacht wieder zurück. Was in Kabul heute normal ist, wird nun in den USATF[4] verboten. Man forsche nach den Gründen. „Die Prämien der Haftpflichtversicherungen sind höher, wenn wir Musikgeräte zulassen“, wird der US-Marathon-Veranstalter zitiert. Aha! Wie schon weiland in Hameln, will man auch heute für die Kosten nicht gerade stehen. Was die Taliban religiös unterdrücken, unterbindet in den USA der Mammon. Leider sagt der Bericht nicht, was die Haftpflichtmathematiker befürchten, wenn sie am Marathon Musik zulassen. Ich vermute, dass es ein Missverständnis ist.

Musik und Rhythmus sind ein mächtiges Flussmittel, ein Lockerungs- und Befreiungsmedium im eigenen Körper, aber auch in Körperschaften und in der Gesellschaft. Wer solches verbietet, unterdrückt die Menschen, schafft Unfreiheit. Und: Der Takt im Laufen hat viel mit Musik zu tun. Vom Laufen zum Tanzen ist nur ein kleiner Schritt. Doch davon später!
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[1] Siehe Deutsche Sagen Nr. 245 von Brüder Grimm bei http://gutenberg.spiegel.de/; es gibt viele ähnliche Sagen über die spezifische Wirkung von Rhythmus und Klangfolgen, in allen Kulturen.
[2] Bei Wikipedia unter Worksong: Dadurch entstand ein starker Rhythmus, der den Arbeitsablauf leitete. Er hielt zum einen die Konzentration jedes Einzelnen aufrecht und sorgte zum andern für bessere Koordination der Bewegungen, lenkte alle Sänger von der Monotonie der Arbeit ab, erleichterte ihre gemeinsamen Bewegungsabläufe und steigerte so ihr Durchhaltevermögen. Oft wurden dieselben bekannten Melodien bei neuen Arbeiten mit neuen Texten unterlegt, um die schon eingearbeitete Gruppe zusammenzuhalten.
[3] NZZ am Sonntag vom 16. Dez. 2007, S. 59
[4] http://www.usatf.org/ organisiert den Laufsport in den USA


Thursday, November 8, 2007

Rehaklinik Zauberberg - Schluss




Stuhl und Bett gehören zu den massgebenden Requisiten in jedem Kurhotel. So wurden die Liegestühle auf den Balkonen des Zauberbergs zum Gegenstand Thomas Manns epischer Betrachtungen: Hans Castorp erinnerte sich nicht, dass ihm je ein so angenehmer Liegestuhl vorgekommen sei. Die unangenehmen Empfindungen des Krankseins wurden aufgewogen durch die grosse Bequemlichkeit seiner Lage, die schwer zu zergliedernden und fast geheimnisvollen Eigenschaften dieses Liegestuhles. Es lag er an der Beschaffenheit der Polster, der richtigen Neigung der Rückenlehne, der passenden Höhe und Breite der Armstützen oder auch nur an der zweckmässigen Konsistenz der Nackenrolle, genug, es konnte für das Wohlsein ruhender Glieder überhaupt nicht humaner gesorgt sein als durch diesen vorzüglichen – das Adjektiv wird elfmal wiederholt – Liegestuhl. In dieser Hinsicht hat die auf Körperbewegung bedachte moderne Klinik nichts ebenbürtiges entgegenzustellen. Wenn ich an die Stühle denke, im Vortragssaal etwa, oder im Fernsehzimmer, dann wird es mir jetzt noch schwindlig. Sie bieten den Herzkranken, zu Schwäche neigenden Gästen keinen Halt. Die aufrechte Sitzposition muss in Ihnen stets neu erkämpft werden, was vor den unsäglich flimmernden TV-Geräten angehen mag, da man sowieso nicht lange hinschaut. Aber dem einstündigen Vortrage würde man gerne folgen und kann es nicht, da man, wenn der Rückentonus nachlässt, ständig befürchtet, über die nach vorn abfallende Seitenlehnen im nächsten Augenblick zu Boden zu rutschen. Einen gewissen Komfort bieten die Betten mit einer zweifach motorischen Rücken- und Beinhochlagerung, dies im Stockwerk für neueintretende Frischoperierte. Diese rücken bei normaler Genesung in der zweiten Woche in die höheren Stockwerke hinauf, wo die Betten immerhin noch einfach motorisch den Rücken stützen.

Indessen stützen sich die heutigen Wanderer mit abgemessenen Titan- oder Carbonstöcken ganz famos. Nordic Walking heisst die trendige Gangart. Sie verbindet die Bodenhaftung von Vierbeinern mit dem aufrechten Gang von Homo sapiens, insofern die Arme mitgehen, mitragen, mitschieben, und, indem sie die Beine entlasten, ebenso wie diese mittrainiert werden. Eine massvolle Bewegungsqual scheint der genussvollen Liegekur weit überlegen, was den Heileffekt anbetrifft. Die Kur darf heute nicht zu kurz sein, aber vor allem auch nicht zu lang. Die Versicherungen verlangen es; wer sich mit ihrer Hilfe im Sauseschritt in den Arbeitsprozess wieder eingliedern lässt, wird in einer Langlimousine in die Fabrik gefahren und schwebt dort wie ein Star unter Applaus zum seinem produktiven Arbeitsplatz –wenigstens die Versicherungswerbung sieht es so. Vielleicht ist das ja gut so, schliesslich leben wir heute auch tatsächlich viel länger und können das Leben auch mehr geniessen... bis zur nächsten Operation, die dann vielleicht den Leistenbrüchen oder der Prostatavergrösserung gewidmet ist. Und in 15 oder 20 Jahren ist auch die Klappe wieder fällig. –

«Spätestens dann sehen wir uns wieder», mit diesen Worten hat mich mein verehrter Herzoperateur verabschiedet. «Bis dann wird die Heilkunst wieder gewaltige Fortschritte gemacht haben», beschwichtigte er mich, es wird dann Zuchtklappen aus den eigenen Stammzellen geben. Und diese werden ohne grosse Narkose über die Beinarterie katheterimplantiert. Dem Zauberthal wird die bewegungslustige Klientel nicht so rasch ausgehen, im Gegensatz zum Zauberberg, der geschlossen werden musste, als man die Antibiotika erfand.
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Sunday, October 21, 2007

Amtliche Hundeentführung

Wieder glücklich zu Hause - was hat Muck wohl alles erlitten und erduldet?
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Unser Hund "Muck" (im Bild) wurde gestern Freitag 12. Oktober 07 im Tierheim Weiermatt (Adliswil, http://www.tierpension-weiermatt.ch/) in einer Razzia des Kantonalen Veterinäramtes, vertreten und geleitet durch die Kantonstierärztin Frau Regula Vogel, beschlagnahmt, zusammen mit vielen andern Hunden, die von ihren Besitzern dort ferienhalber oder aus andern Gründen vertraglich in Obhut waren. Die vom Tierheim ebenfalls aufgenommenen, zugelaufenen halterlosen Hunde, hat das Veterinäramt nicht mitgenommen, was darauf hinweist, dass die Beschlagnahme keine seuchenpolizeiliche Massnahme war. Leider will uns die Kantonstierärztin nicht mitteilen, wo sich Muck befindet. Der Tierrettungsdienst hält sich ebenfalls bedeckt, obgleich er vom Vorgang weiss. Dabei wäre es ganz einfach: Wir erhalten die Adresse des Aufenthaltsortes und wir holen unsern Hund dort ab. Die Hunde und ihre Halter sind ja heutzutage mit Chip leicht indentifizierbar. Stattdessen lässt uns die Kantonstierärztin und Präsidentin der eidgenössischen Tierversuchskommission im Ungewissen und macht nur vage Angaben über die Rückführung unseres vierbeinigen Familienmitglieds. Übrigens hatten wir mit dem Tierheim Weiermatt den Abholtermin auf Samstag, 13. Oktober mündlich und schriftlich vereinbart. Am Freitag ging eine Faxbestätigung von uns ans Tierheim, wo wir den Abholtermin Samstag nochmals schriftlich festhielten. Dieses Fax wurde dem Veterinäramt bei der Razzia gezeigt, trotzdem nahm man unseren Hund mit! Man untersagte der Tierheimleitung die Kontaktaufnahme mit den Hundehaltern während der Razzia, und man richtete stattdessen unsägliches Chaos und Panik unter den Tieren an. Dieses Vorgehen des Veterinäramtes ist unverhältnismässig und völlig inakzeptabel. Der Hund ist keine Ware, die man einfach wegführen kann, wie ein falsch parkiertes Auto, ohne die Eigentümer über den Verbleib zu unterrichten. Wir sind zum Zeitpunkt der Razzia telefonisch erreichbar gewesen und hätten den Hund sofort abholen können. Diese mit zahlreichen Autos und Polizei durchgeführte Beschlagnahme ist sehr teuer. Warum hat man für dieses Geld der Hundeheim-Leiterin, die sich in den Medien einsichtig und lernfähig zeigte, nicht einen Coach zu Seite gestellt? Übrigens wurde uns dieses Hundeheim von unserem Tierarzt empfohlen, und auch ein weiterer Adliswiler-Tierarzt, den wir zusätzlich konsultierten, wusste nichts Negatives über diese Tierpension zu berichten. Kurzum, eine so brutale Aktion von Amtes wegen gehört nicht in ein zivilisiertes Land. Ein weiteres Tierheim in unserer dichten Agglomeration wird damit in seiner wirtschaftlichen Existenz getroffen, statt geschützt. Das kann nicht im Interesse der Bevölkerung sein. Nie wieder werden wir den Hund in eine Tierpension geben, denn man kann nie wissen, ob ihn das Veterinäramt dort beschlagnahmt mit unbekanntem Verbleib. Unglaublich aber wahr!
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Friday, September 28, 2007

Rehaklinik Zauberberg II


Dem Auf und Ab einer fiebrigen Lunge im Zauberberg[1] entspricht in der kardialen Rehaklinik die immerfort drohende Herzrhythmusstörung, insbesondere der Herzinfarkt. Mit einem Arsenal fallweise verordneter Arzneien für die Rhythmuskontrolle, Betablockern, Lipidsenkern, Antikoagulazien, Digitalis-Extrakten und Nitraten verfügt die Klinik über eine einmalige Kompetenz. Nützen die Arzneien nichts, so schreitet man weiter zu einer elektrophysiologischen Schocktherapie, der so genannten Elektro-Kardioversion, die unter Narkose durchgeführt wird. Das Herz wird für Augenblicke stillgelegt. Erfahrungsgemäss springt das unbotmässige Herz nach ein, zwei oder drei gewaltigen Schlägen in den normalen Rhythmus um, Tachykardien verschwinden sofort. Ob dieser Sinusrhythmus persistiert oder ob das ungeregelte Rumpeln im Brustkasten nach Tagen oder Wochen wiederkehrt, bleibt allerdings eine bange Frage so mancher rasch Entlassener. In Davos kehrten zu früh Entlassene rechtzeitig zurück, oder sie verstarben in der feuchten Tieflandluft. Auch in Gais[2] soll es eine wiederkehrende Klientel geben, sie ist aber nicht die Regel, weil man geradezu beschwörend eine individuell eingestellte, Rückfälle verhindernde Austrittsrezeptur verordnet, die, zusammen mit Verhaltensvorschriften, oft lebenslang beachtet werden muss.

Kranke Kurgäste aus aller Welt trafen sich im Zauberberg: Russen, Holländer, Spanier, Italiener, Griechen, viele Deutsche und Österreicher, genau wie heute, wobei ich in Gais überdies einen Inder und eine Amerikanerin ausmachte. Die pflegenden Fachfrauen bestehen heute aus einer gepflegten Frauengruppe in weissen Uniformen, die von einer mit schulterlangem hellblonden Haar dekorierten, äusserst rasch und präzis arbeitenden Oberpflegerin angeführt wird. Eine Tafel zeigt die Portrait-Fotos dieser Truppe, deren Namen vorwiegend auf «-ic» enden. Ob sich Thomas Mann wohl die Arbeit vereinfachte, indem er nur eine Krankenschwester portraitierte, eine schwarz eingekleidete mit weisser Haube, mit einer rauen Schale gepanzerte Diakonissin, eine in allen Krankengeschichten erfahrene Person, deren Loyalität zum Zauberberg sich nicht zuletzt in einer auffälligen Geschäftstüchtigkeit entpuppte. Sie verkaufte Fieberthermometer alias Quecksilberzigarren sogar den Gästen. Gegen beschönigendes Ablesen gab es die stumme Schwester, ein Thermometer ohne Gradeinteilung, nur die Schwester hatte eine passende Ableseskala in ihrer Tracht. Heute kaufen wir Blutdruck- und Quickmessgeräte für den beruhigenden Eigengebrauch in den Selbstbedienungsregalen der Epigonen Duttweilers. Gotteslohn oder Hungerlöhne gegen eine trügerische soziale Sicherheit sind die gemeinsame Grundlage dieser durch ihren Sinn geadelten Anstellungsverhältnisse, damals wie heute.

Am Klinikeingang gab und gibt es die Concierge-Loge, wo die Post in Fächern verteilt wird, mit einem kleinen Nebengeschäft in einem Kiosk, der Zeitungen, Bücher, Vortragsmanuskripte, Toilettenartikel, Papeteriewaren, Süssigkeiten und sogar Sylvesterscherze und Vulkane für den Nationalfeiertag feilbietet. Heute liegen grosszügig alle relevanten Tageszeitungen der Gegend und die wichtigsten Presserzeugnisse der Schweiz gratis zum Lesen an Ort und Stelle auf. Ein einziger Unterschied, der auf evidenzbasierter Medizinforschung beruht: Zigarren, wie sie im Zauberberg trotz verkäster Lungen grosszügig angeboten wurden und die auch Thomas Mann olfaktorisch inspiriert haben – übrigens auch ein psychosomatischer Effekt – sind heute als extrem herzgesundheitsschädigend tabu. Den bedauerlichen Tabaksüchtigen und Genussrauchern ist das Rauchen nur noch auf einer harten Sitzbank im Beton der Autounterstände erlaubt, die Tür dazu ist freilich auch des Nachts geöffnet. Und so sitzt dort immer ein verschworenes Grüpplein Inhalierender mit einem sehr schlechten Gewissen. Nachts tanzen rote Irrlichter ab und auf.

In einem gepflegten warmen Hallenbad vermittelt heute Wassergymnastik bei flotter Musik das höchste aller therapeutischen Gefühle. Im Berghof waren es streng verordnete stille Liegekuren an roborierender Bergluft auf endlos langen gedeckten Balkonen; die Liegezeiten waren auch bei schlechtem Wetter und bei starken Minustemperaturen strikt einzuhalten. Wärme holte man sich aus dem eignen im persönlichen Bärenfell verpackten Körper, insbesondere aus dem immerfort verdauenden Bauch. Auf die Atemwege, die Lungenentfeuchtung und auf die vegetative Regulation kam alles an, und auf den unbändigen Davoser-Appetit, der in 5 Mahlzeiten befriedigt wurde. Sport wurde eher klein geschrieben, er diente höchstens der Abwechslung und dem Vergnügen, wogegen die Kuren heute überwiegend Sport- und Wellness-Kuren sind, seit man durch unzählige doppelt blinde Studien weiss, wie viel nachhaltige Gesundheit passend dosierter Sport in kardiovaskulär Erkrankten aufzubauen vermag. Überhaupt waren die Zimmer damals für heutige Wellness-Bedürfnisse viel zu kalt. Damit im Winter das Waschwasser im Keramikkrug nicht gefror, behalf man sich mit zentral befeuerten, knackenden Dampfradiatoren. Ich bewegte mich in Gais auf nur 1000 m.ü.M. im Juli. Sogar dann wurde die Heizung vorübergehend immer wieder eingeschaltet.

Auf das Essen wurde und wird grössten Wert gelegt, weil es für das Gesundwerden und Gesunderhalten durchaus notwendig war und ist, freilich heute mit veränderten Prinzipien. Damals wurden drei opulente Hauptmahlzeiten gereicht, wie sie schon in Buddenbrooks beschrieben sind, ergänzt durch zwei im Speisesaal einzunehmende Zwischenmahlzeiten, also fünf Mahlzeiten insgesamt. Heute wird kalorienbewusst aufgetischt, die Zusammensetzung der Tellerinhalte ist nach einem ausgeklügelten System auf jeden Kurgast abgestimmt. Mein Zimmerkollege erhielt Diabetes-Diät. Nachschöpfen ist in der Regel nicht für alle Speisen erlaubt; die Küche schöpft nach und man trägt fertig beladene Teller in den Speisesaal. Für die empfohlenen Znüni und Zvieri wird am Frühstücksbuffet Extraobst gereicht. Mittelmeerkost heisst das Zauberwort für Herzpatienten, denn die Mittelmeerbewohner leiden ihrer Ernährung wegen weniger an Herz-Kreislaufkrankheiten.

Hans Castorp atmete am Waldrand im Zauberberg tief die reine Frühluft, diese frische und leichte Atmosphäre, die mühelos einging. Die moderne Klinik liegt inmitten landwirtschaftlich intensiv genutzter Grasparzellen. Sie werden von Bauern bewirtschaftet, denen es offensichtlich keine Herzensangelegenheit ist, den Herzkranken zu hofieren. Ich habe eine Geruchsattacke erlebt, die ich ihrer Schärfe wegen schon fast kriminell nennen müsste, weil vor dem Wind nicht-desodorierte Schweine-Jauche ausgebreitet wurde, worauf die Terrasse des Klinikrestaurants fluchtartig geräumt und die Türen rasch verschlossen werden mussten. Leider sandte der Himmel auch keinen Regen übers Land; es stank tagelang durch alle Ritzen. In der Klientel des Kurhauses regte sich grosser Unwille. Nicht genug: Hinter dem medizinischen Trakt befindet sich im Abhang eine Grasterrasse, auf der täglich Morgenturnen mit Stock vor dem Frühstück angesagt ist. Ich habe beobachtet, wie der Landwirt bis hart an den herrlichen Platz die Jauche ringsherum austrug. Nun gibt es eine Zeitlang kein Entrinnen mehr, jeder muss morgens bei Turnübungen die bäurischen Fäkaliengase kräftig inhalieren. Unbegreiflich, da es doch die geruchsfreie Gülle gibt.[3]

So hat jede Klinik ihre Vorzüge und Nachteile, heute wie vor hundert Jahren. Überblickt man das ganze Geschehen, kann man der heutigen, evidenzbasierten[4] Rehabilitation ein Kränzchen winden. Für den Herzpatienten sind die Fortschritte durch Kraftgewinn und Ausdauer in der Regel täglich spürbar. Bald wird man in die oberen Stockwerke zu den tüchtigeren Leidensgenossen, zu den beinahe Gesunden umquartiert, die sich als noch Gestörte erweisen, weil sie, statt den Lift zu nehmen, wie wild die Treppen rauf und runter sausen. Der dreimal tägliche Blutdruck/Puls-Rapport im Pflegezimmer findet nur noch einmal statt. Die geführten Wanderungen von einer knappen Stunde dehnen sich nun auf vier oder mehr Stunden aus, und dies bei jedem Wetter. Man wird forciert, wo es drinliegt, und kann entspannen durch etwas Ruhezeit, mehrmals täglich. Und man wird persönlich abgestuft ausgelastet und dabei sorgfältig überwacht, auf Schritt und Tritt professionell beraten.

Dieser Prozess ist messbar, er wird in zahlreichen Protokollen festgehalten. Was früher der Geheimrat über seine Krankenschwester anordnete, darum kümmert sich heute ein eingespieltes Team, von der Zimmerfrau bis zum Verwaltungsdirektor, von den Vorturnerinnen bis zum Sportlehrer, von der Küchenangestellten bis zum Chefarzt. Hinter den Kulissen arbeiten EDV-Spezialistinnen, die man nie zu Gesicht bekommt, auf der Grundlage der ständig erhobenen Befunde und Messdaten, an ausgeklügelten Programmen und persönlich abgestimmten Einsatzplänen. Heute könnte sich ein mehrjähriger Kuraufenthalt niemand mehr leisten; in den kassenpflichtigen vier Wochen im Appenzellischen wird indessen mehr erreicht.
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[1] Zauberberg, Roman von Thomas Mann über ein Davoser Lungensanatorium vor 100 Jahren.
[2]
www.klinik-gais.ch Herz-Rehaklinik im Appenzellerland
[3] Rüprich, W. (1980): Geruchsfreie Gülle. DLG Verlag Frankfurt
[4] www.evimed.ch hat die Fachkompetenz zur Bewertung klinisch-medizinischer Informationen für die Praxis.

Rehaklinik Zauberberg I


Noch vor meiner Herzoperation las ich rein zufällig Thomas Manns Zauberberg. Vielen ist dieser in 35 Sprachen übersetzte, millionenfach verkaufte Roman über die Davoser Lungenklinik bekannt, für Davoser und Kilchberger ist seine Lektüre Pflicht. Thomas Mann selbst erhielt dafür den Ehrendoktor für Naturwissenschaften von der Eidgenössisch-Technischen Hochschule ETH, 1955 in Kilchberg/Zürich, insbesondere für seine akribische Beschreibung der Medizintechnik vor dem ersten Weltkrieg mit der damals neuen Röntgentechnik, die im Zauberberg vor allem zur Sichtbarmachung des Lungenzustandes zur Anwendung kam. Auch in der heutigen Herzdiagnostik spielt das Röntgen-Brustbild eine wichtige Rolle. Die Klinik Gais, in die ich nach der Herzoperation eingewiesen wurde, besitzt auch eine derartige Apparatur, und zwar im Kellergeschoss, wo sie der Abschirmung halber schon damals im Zauberberg aufgestellt wurde. Die historische Fotoplatte ist heute durch den Flachbildschirm mit DVD-Recorder ersetzt. Wegen der langen Belichtungszeit war das schlagende Herz nur ein verwaschener Schatten; es wird heute als kontrastreiches Live-Video registriert.

Im Betrieb eines medizinischen Kurhauses vor hundert Jahren und heute gibt es auffallend viele Parallelen. Es ist nicht ohne Reiz, diese einander gegenüberzustellen.[1]

Damals im Zauberberg wie heute in Gais tragen zwei deutsche Ärzte die medizinische Verantwortung. Der eine, ein introvertierter Bartträger, kümmert sich um die seelischen Nöte; der andere, extravertiert und temperamentvoll, ist für die somatischen Erkrankungen zuständig. Im Zauberberg wurde die Tuberkulose kuriert, in Gais kümmert man sich vor allem um die am Herzen frisch Operierten. Beide Ärzte hielten und halten wöchentlich Vorträge für alle. Schon damals war es erstrebenswert, aufgeklärte Patienten heranzubilden. Heute ist dies in der spezialisierten Medizin offenbar noch wichtiger geworden. Die leitende Ärztin in Gais, Angelika Bernardo, schreibt in ihrem Buch[2] Herzklappe ein ganzes Kapitel über den operierten Patienten – Fachmann in eigener Sache. In der psychologischen Unterweisung standen damals die um den Sexus kreisenden Theorien von Sigmund Freud im Zentrum der Aufmerksamkeit und sorgten im Auditorium für deplaciertes Gekicher. Heute ist die Psychosomatik das im Trend liegende Fachgebiet, doch sorgt der Raucherpenis wie früher für kichernde Unruhe im Publikum, mit dem Unterschied, dass heute jemand zu fragen wagt, worum es sich hierbei handle.

Die Trennung der Zuständigkeiten beider leitender Ärzte ist übrigens rein praktisch begründet. In dieser Klinik für kardiale und psychosomatische Rehabilitation wird bei jeder Gelegenheit die Einheit der Menschennatur betont, die sich nicht in eine seelische und eine organische Abteilung auseinander dividieren lässt. So nehmen auch die mehr psychologisch Betreuten am vollen Sportprogramm teil, nach dem alten Leitwort mens sana in corpore sano. Umgekehrt haben Herz-/Kreislaufkrankheiten oft stressbedingte, mithin psychische Ursachen. Obgleich die Fachrichtung Psychosomatik in der universitären Medizin erst seit wenigen Jahren voll berücksichtigt ist, äusserte sich schon Thomas Mann vor hundert Jahren in diesem Sinne, indem er im Zauberberg über Sachverhalte berichtet, die sich auf dem Wege über das Seelisch-sittliche geradezu auf das physische und organische Teil des Individuums erstrecken mögen. Auch schreibt er über Schmerzen, die gleichzeitig physische wie seelische Ausdehnungen haben. Darüber, dass die meisten Krankheiten multifaktoriell bedingt sind, herrscht heute weitgehend Übereinstimmung. Über die Gewichtung psychischer und körperlicher Faktoren bei unterschiedlichen Krankheitsbildern gibt es jedoch immer wieder unterschiedliche Positionen zwischen somatisch orientierten Medizinern und Vertretern der klinischen Psychosomatik, denn der psychosomatische Ansatz trifft heute auf ein medizinisches System, das in vielen Bereichen noch dem Kausalitätsprinzip des kartesianischen Weltbilds folgt und einer Krankheit jeweils eine bestimmte Ursache zuzuordnen trachtet.[3] In der sehr erfolgreichen Klinik Gais, wo gleichberechtigt kardial und psychosomatisch behandelt wird, scheint man in dieser Hinsicht Marksteine zu setzen. [4]

Der langen Verweildauer der Patienten, nicht selten von Jahren, im Davoser Lungensanatorium entsprach der Zeitbedarf einer tiefenpsychologischen Analyse bestens, während heute dieselben Krankheiten in der medikamentös unterstützten Verhaltenstherapie offenbar in nur vier Wochen kuriert werden können. Damals konnten sich nur Gutbetuchte einen so langen Aufenthalt überhaupt leisten, wo heute eine krankenversicherte gemischte Klientel nach nur wenigen Wochen für den Alltag tüchtig entlassen wird. Gesunde Gäste übrigens waren früher ebenso willkommen wie heute, mit dem kleinen aber unfeinen Unterschied, dass damals der Röntgenarzt oder die Fieberschwester dazu neigte, Gäste in Kranke zu verwandeln, indem man die Ahnungslosen von den Segnungen eines Langzeit-Aufenthaltes zu überzeugen versuchte. So kam es, dass der Protagonist, der frischgebackene Schiffsbauingenieur Hans Castorp, vom gesunden Besucher zum Lungenkranken mutierte und im Zauberberg lange Zeit festgehalten wurde. Solches geschieht heute kaum noch, obgleich die barzahlenden Gäste auf Wunsch am vollen Therapieprogramm teilnehmen können. - Vergleichen wir im Folgenden einige interessante Einzelheiten damals und heute.

Sauerstoff zur Lungenunterstützung der Moribunden[5] musste damals für teures Geld in runden Flaschen bezogen werden. Heute wird es durch bauseitige Leitungen ans Kopfende der Spitalbetten geführt, worin nicht nur Sterbende liegen. In Gais wird anschliessend Atemgymnastik betrieben zur Entfaltung des durch Herz-Lungen-Maschine und Pneumothorax oftmals verkümmerten Organs. Begriffe wie Pneumothorax [6], Pleuraschock, Pneumotomie, Rippenresektionen und dergleichen werden von Thomas Mann rückhaltlos realistisch beschrieben. Sie können noch heute Betroffene gehörig schrecken; im Zauberberg erhöhten solche Erfahrungen am eignen Leib das soziale Ansehen im Sanatorium. Operationen dieser Art werden heute spitalseitig behandelt, sie spielen im Rehazentrum kaum mehr eine Rolle. Hingegen kursieren sie dort als Krankengeschichten, über die man oft und gerne spricht. Eine eigene, möglichst krasse Krankengeschichte ist auch heute für Neueintretende der beste Schlüssel für eine rasche soziale Integration. Sie kursieren etwa im Speisesaal, an den 4er- oder 6er-Tischen, und dienen, zusammen mit den mediterranen Leckerbissen, durchaus zur psychosomatischen Rekonvaleszenz.

Es werden in Gais Kategorien gebildet, Leistungsklassen etwa, Herzklappengruppen, Bypass-Operierte und andere. Ärzte kümmern sich um solche Gruppen speziell, Herzklappen-Probleme werden in der Klappengruppe intensiver diskutiert, man kann dort mit der Internet-Medizin brillieren und man lernt sich kennen. Dabei verkehrt man unter den Patienten in der Regel per Du, die zivilen Standesunterschiede und sozialen Netze zu Hause verblassen. Seine Therapieziele kann am besten erreichen, wer sich solcher Gemeinschaft nicht entzieht, sondern unterwirft. Dann spürt man die heilsame Gruppendynamik am eigenen Leib.
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[1] http://corpus.en.kyushu-u.ac.jp führt zu einer Thomas-Mann-Konkordanz einer Universität in Japan, die jedes Stichwort in seinem Kontext zeigt. Eine wunderbare Hilfe für meinen Vergleich!
[2] Angelika Bernardo (Hrsg.): Gut leben mit der neuen Herzklappe. Trias – Stuttgart, 2002, 228 S.
[3] Siehe auch Psychosomatik in Wikipedia.
[4] Über die Geschichte der Psychosomatik in der Schweiz berichtet in Form eines elektronischen Buches www.sgppm.ch/adei.php?go=geschichtede
[5] Hinter den Türen, vor denen solche Ballons standen, lagen Sterbende oder «Moribundi», wie Hofrat Behrens sagte (Zitat aus Zauberberg). In Gais gibt es selten Moribunde.
[6] Historisch ist der künstlich angelegte Pneumothorax als Therapieverfahren bei der Lungentuberkulose bekannt.

Saturday, July 21, 2007

Big Bang


Mein Herz schlägt noch nicht im richtigen Rhythmus. Es entzieht sich der Kontrolle durch den natürlichen Schrittmacher, den Sinusknoten. Stattdessen lässt es sich von den Vorhöfen zu sehr beeindrucken, die nach der vorübergehenden Stilllegung in der Herz-Lungen-Maschine nun ihr eigenes Entladungsspiel betreiben und den Herzkammern ein gleichmässiges Pulsieren verunmöglichen. Diese Komplikation ist nach grossen Herzoperationen bekannt. Sie ist nicht lebensgefährlich, muss aber dennoch ernst genommen werden, denn das Herz kann seine volle Leistungsfähigkeit so nicht entfalten. Mindestens die Blutverdünnung muss ich mit diesem so genannten Vorhofflattern dann lebenslang beachten. Das wäre eine herbe Enttäuschung für mich, denn ich habe mich gefreut, wie früher ein Leben ohne Medikamente führen zu können. Das wurde mir vom Chirurgen für diesen biologischen Klappentyp in Aussicht gestellt.

Die Rehaklinik kümmert sich also um die so genannten Kardioversion. Zunächst gibt man mir Betablocker, zwei Wochen lang. Diese verhindern zunächst die unmotivierten raschen Kontraktionen der Herzkammern. Man hofft, dass ein regelmässiger Puls, ein Sinusrhythmus sich mit der Zeit spontan einstellt. Doch mein Herz findet pharmakologisch nicht in die Normalität zurück. Lediglich nachts, nachdem ich Stunden geschlafen habe, höre ich mein Herz im Kopfkissen schön regelmässig pumpen. Schon unter der Dusche kehren morgens die Unregelmässigkeiten zurück. Beharrlich rumpelt meine Herz im aufgeschlitzten Herzbeutel wie ein unmusikalischer Chaot, schnelle Schlagzeiten wechseln mit langsamen unruhig ab. Anfangs ängstigt mich dies, doch dann gewöhne ich mich daran und es ergeben sich daraus kaum Missempfindungen. Allein, die Pumpleistung entwickelt sich nicht in der gewünschten Stärke. Trotzdem kann ich an einem 3-stündigen Marsch ohne Beschwerden teilnehmen.

In der Rehaklinik spreche ich mit einem Leidensgenossen, dem dasselbe Problem zu schaffen machte, der die 4-wöchige Kur aber dann doch mit einem Sinusrhythmus verlassen konnte. Nicht weil sich das Herz spontan normalisiert hätte, sondern wegen einer ganz andern Erziehungsmethode für das unbotmässige Wesen: Ein Elektroschock hat sein Herz schliesslich zur Raison gebracht. Die elektrische Kardioversion ist nun also auch bei mir die Methode der Wahl, und es ist mir noch nicht klar, ob die Angst vor der zwar kurzen, aber schockierenden Kur oder die Hoffung auf Normalität überwiegt. Zweite und dritte ärztliche Meinungen, insbesondere diejenige meines Chirurgen, dem ich vertraue, geben mir schliesslich den Mut, mich in der dritten Reha-Woche dem heilenden Urknall mittels Defibrillator tapfer auszuliefern. Armes Herz, denke ich, will man dich mit 100 Wattsekunden-Schlägen zur Ordnung zwingen? Ergebe dich dieser Übermacht, denke ich, halte durch, nachher wirst du es leichter haben, wenn du den ordentlichen Tritt gefunden hast.

Zwei Ärztinnen kümmern sich um mich. Man fragt mich, ob ich nervös sei. „Ich gehe cool an die Sache ran, wenn ich mich mal dazu entschlossen habe“, erwidere ich. Die leitende Ärztin der Klinik, Kardiologin in zweiter Generation, geht bereitwillig auf meine letzten Fragen ein. Sie steht am Kopfende des Bettes und überwacht umsichtig und erfahren den Narkoseverlauf und meine Körperreaktionen auf den Schock, um im Notfall eingreifen zu können. Die zweite Kardiologin gibt mir Sauerstoff, dosiert die Narkose, leitet sie über die Infusion ein und bedient die „Shockmachine“ Marke Philips HEARTSTART MRx Monitor/Defibrillator. Bevor ich mich dieser Maschine anvertraue, habe ich alle Betriebsanleitungen und Erklärungen des Herstellers durchgelesen. Fazit: Diese Klinik benützt ein sehr modernes und gleichzeitig valides Gerät. Es werden grossflächige Klebeelektroden linksseitig unter dem Herzen und unter dem rechten Schlüsselbein angebracht. Sie geben Gewähr, dass keine Hautverbrennungen auftreten, da der Stromfluss auf die Fläche verteilt wird. Die Kurznarkose dauert 45 Minuten und wird mit dem kardiovaskulär neutralen Narkosemittel Etomidat durchgeführt, das mich unmerklich einschlafen und ohne Missempfindungen wieder erwachen lässt. Der erste Elektroschock, biphasisch mit 100 Joule Energie und 10-15 Millisekunden Dauer, wird schon nach wenigen Minuten durch Knopfdruck ausgelöst. Es fliesst, synchron zur Herzkontraktion, dabei kurzfristig 10 Ampère Strom durch den Brustkorb. Ein solcher Stromschlag wäre ohne Narkose nicht auszuhalten und hätte eine schwere Traumatisierung zur Folge. Doch in der Narkose spüre ich davon effektiv nichts!

Schon spricht die leitende Ärztin mich an: „Herr Fricker, ihr Herz schlägt im Sinusrhythmus. Wir benötigten nur einen Schock.“ Ein freudvolleres Erwachen gibt es nicht! Ich bin sofort bei Sinnen und gebe meiner Erleichterung über diesen Erfolg redseligen Ausdruck. Noch etwas liegen bleiben ist angesagt, dann kann ich auf den Bettrand sitzen und schon nach Minuten unbegleitet ins Zimmer zurückgehen. Ich fühle mir dort den Puls: Tatsächlich, so regelmässig und kraftvoll war er nach der Herz-Operation noch nie! Ich rufe meine Frau an, und sie freut sich riesig mit. Ich beschaue mich im Spiegel: Es ist nur der Rand der Elektrode als geringe Rötung der Haut noch sichtbar, die Haut darunter ist freilich tastempfindlich. Ich rufe meinen Freund an, der sich um alle meine Genesungsschritte rührend kümmert. Als erfahrener Naturwissenschafter beeindruckt ihn diese Massnahme sehr, und er ringt um eine theoretische Erklärung, warum das Herz durch den Schock von so viel Chaos in den Vorhöfen zur alten Ordnung zurückfindet.

Die Kardiologen wissen zwar, dass es funktioniert und wie man es machen muss, aber sie wissen nicht, warum es funktioniert! In der Kardiologie hat man 30 Jahre Erfahrung mit dieser Elektro-Kardioversion, wie sie verharmlosend heisst, aber man hat keine theoretische Erklärung, was dabei genau geschieht. Dies ist eine typische Situation in der Medizin, sie gleicht oft mehr einer Kunst als einer exakten Wissenschaft. Zwar warf mich dieser Schock um etwa eine Reha-Woche zurück, das Treppensteigen ist wieder mühsam. Die Vorhöfe müssen von ihrem 400/s Flattern wieder in den regulären Rhythmus von 60-70/s Kontraktionen zurückfinden und der Sinusknoten muss, durch das Vegetativum gesteuert, wieder lernen als Dirigent zu führen. Der chronisch zu tiefe Blutdruck scheint nun durchschnittlich 20 mmHg höher zu sein, die Neigung zur Schwindel wäre damit behoben.

Tuesday, July 10, 2007

Ewigkeit

Bild 1: Meine halb verschlossene Aortenklappe vor deren Entfernung

Die Langeweile, die Kurzweil, die schnelle Zeit, die wie im Schlaf vergeht, aber auch quälend langsame, immerfort kreisende Szenen in Träumen sind uns allen wohl bekannte Erscheinungen unseres Zeitempfindens. In der grossen Narkose habe ich selbst, und alle der von mir befragten Leidensgenossen haben es bestätigt, die eigene Zeit als Zeitloch erlebt. Frühmorgens am Operationstag, noch auf der Bettenstation, erhalte ich das Einschlafmittel über die Infusion und bin in Kürze sanft entglitten. Nicht einmal die Fahrt in den Operationsraum nehme ich wahr. Im gleichen Augenblick jedoch, und das ist das Erstaunliche, ist die komplizierte Operation auch schon vorbei. Ich erwache sanft und ohne Missgefühle und freue mich am abendlichen Sonnenlicht und Blätterwerk draussen vor der Jalousie des Aufwachraums.

Bild 2: Meine neue Bio-Herzklappe nach Implantation; rechts die künstliche Blutversorgung in die Hauptschlagader durch die Herz-Lungen-Maschine
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Die theoretische Deutung des Zeitlochs in der Herzoperation ist nicht einfach. Die Zeitwahrnehmung wird hier sozusagen aus- und am Ende wieder eingeschaltet. Dazwischen liegt kein subjektives Zeitgefühl. Werden die dafür verantwortlichen Nerven-Kerne stillgelegt? Ist es ein tolerierter Nebeneffekt, oder wird es durch die Narkosemittel gezielt bewirkt? Dazwischen dreht der grosse Zeiger der Uhr (physikalische Zeit) mehrmals rundherum, in der die Chirurgen ganze Arbeit leisten.

Man kann es auch so beschreiben: Es ist wie ein langer Filmstreifen, aus welchem für mich mehrere Stunden herausgeschnitten und die beiden freien Enden zusammengeklebt werden. Das Drehbuch dieses Filmabschnitts zeigt sich mir nur noch in Form eines Operationsberichts und zweier Fotos, der alten und der neuen Klappe an meinem Herzen.

Eine grosse Operation an der Herz-Lungen-Maschine ist nicht eine gerade Einbahnstrasse, sondern eine Verzweigung. Eine geringe Anzahl derjenigen, die zeitlos hineinfahren, biegen ab in die Strasse, aus welcher man gar nicht mehr erwacht. Für Ärzte ist dies eine Art von Roulette, wo eine Raste mit Tod angeschrieben ist. Es ist immer möglich, sagen sie in ihren Publikationen, dass die Seelenkugel dort stehen bleibt. Wenn man zurück fragt, wie breit denn diese Raste sei, wissen sie es höchstens im statistischen Durchschnitt, wenn überhaupt. Jedes Herz ich nicht bloss ein Körperorgan, es ist ein eigenes Wesen mit seinen inneren Werten, Ordnungen und Gesetzen.

Gross war die Anteilnahme der Familie, meiner Freunde und vieler lieber Bekannter, die mir Glück wünschten; und viele beteuerten, in Gedanken und in Gebeten (auch islamischen) an mich zu denken in der Hoffnung, dass mir die Todesstrasse nicht bestimmt sei. Obgleich ich lieber Glauben durch Naturwissenschaft ersetze wo, diese anwendbar ist, rührte und rührt mich dies sehr, und ich danke allen für die überwältigende und hoch wirksame Anteilnahme an meiner Achterbahnfahrt. Meditative Selbsthypnose akzeptiere ich wohl und kenne sie insbesondere in Form der Psychofonie. Offen gesagt weiss ich nicht, was es heisst, den Himmel mit den eigenen inneren Augen zu schauen. Ich habe nie das Wort Gottes direkt gehört oder Engel gesehen. Deshalb greife ich lieber zu Büchern und Texten über den Himmel. Rilke etwa hat es mir sehr angetan.

Schliesslich bleibt die Musik, dieses unergründliche Wesen, das alles zusammenzufassen scheint; kaum auszudenken, wenn ich auf die Musik, auf Beethoven, Chopin, Brahms, Rachmaninov und wie sie alle heissen, verzichten müsste. Musik ist das Medium, das ich innig teile mit meiner engsten Beziehung, derjenigen zu meiner geliebten und starken Frau. Gerade jetzt habe ich erfahren, welches Himmelsgeschenk sie in meinem Leben ist. Unverdientes Glück! Vielen meiner Mitpatienten müssen auf ein solch intensive Anteilnahme und Genesungshilfe verzichten und erfahren ihre Einsamkeit jetzt umso schmerzlicher.

In diesen langen Tagen und Nächten nach meiner Herzoperation denke ich oft zurück bis in die eigene Kindheit. Auch ich wurde als Kind getauft und bin vor Jahrzehnten von meinen Eltern in christlicher Auferstehungshoffnung erzogen worden. Es liegt mir deshalb nicht fern, diesen Glauben mit der tatsächlich erlebten biologischen Zeitlosigkeit gedanklich zu verbinden. Man kommt dann zum überraschenden Schluss, dass die Auferstehung für alle Verstorbenen zu einem einzigen Zeitpunkt stattfindet, nämlich im zeitlosen grossen JETZT.

Tuesday, July 3, 2007

In der Schlangengrube Äskulaps II

Fluchtartig verliess ich also das städtische Spital und versuchte die Schlangen Äskulaps wie böse Träume abzuschütteln. Weder ein Quacksalber noch ein Kardiologe, sondern der Hausarzt brachte mir dann die Zweitmeinung ins Haus. Schliesslich aber wurde mir klar: die Herzoperation muss sein. So stellte ich mich gefasst und gut vorbereitet dem Gespräch mit meinem Chirurgen. Dieses beginnt mit einer Überraschung.

Die Schriften der Schweizerischen Herzstiftung[i], die im Spital den Herzkranken abgegeben werden, empfehlen den Patienten in meinem Alter die künstliche Herzklappe aus Carbonfasern. Sie ist im Blog unten abgebildet. Da mechanische Herzklappen normalerweise keine strukturellen Veränderungen erleiden, werden Sie bei 60-jährigen bevorzugt eingesetzt. Sie verlangen jedoch eine lebenslange antikoagulatorische Therapie[ii] aufgrund ihrer starken thrombogenen[iii] Eigenschaften. Nachteil: Das Blutungsrisiko nimmt damit zu. Es steigt mit zunehmendem Alter, was insbesondere für das Hirn fatal sein könnte. Das bekannteste Medikament Marcumar hat in der Praxis überdies noch weitere Nebenwirkungen[iv], die es nebst Beipackzettel zu bedenken gilt.

Die Überraschung besteht darin, dass mir mein Chirurg eine biologische Klappe empfiehlt. Ich war auch darüber bereits aus dem Internet informiert und entgegnete, dass ich in diesem Falle in zirka 15 Jahren nochmals zur grossen Herzoperation antreten müsse. Der Chirurg hatte dagegen nichts einzuwenden. Er schätzte das Risiko einer zweiten Herzoperation geringer ein als das Risiko einer lebenslangen Blutverdünnung. Biologische Klappen, modelliert aus dem Herzbeutel des Rindes (Pericard), oder echte Schweineklappen, die in einem Gerüst befestigt und am Ausflusstrakt der linken Herzkammer eingenäht werden, neigen genau so zur Verkalkung wie meine angeborene Herzklappe. Ihre Lebensdauer ist infolge dieser Abnützung beschränkt. Je nach Studie findet man Werte von 10 - 25 Jahren.

Der entscheidende Vorteil biologischer Herzklappen liegt in der geringen Thrombogenität4, die eine lebenslange antikoagulatorische3 Medikation entbehrlich macht. Auf Patientendeutsch heisst das, wenn die Operation gelingt, kannst du die Klappe lange Zeit vergessen. Man empfiehlt mir die porcine Mosaic Bioprothese von Medtronic[v], die in der dritten Generation mit Antimineralisationsbehandlung erhältlich ist. Hiermit steigt die Aussicht auf ein nicht eingeschränktes, selbstvergessenes Leben. Klar, dass dies die Krönung jeder chirurgischen Massnahme ist. Florian Botzenhardt hat dieser Prothese seine Doktorarbeit gewidmet. Diese ist sehr aufschlussreich für mich und motiviert mich, dem Antrag des Chirurgen stattzugeben. Ich habe mir schon vorgenommen, 15 Jahre lang wenig Schweinefleisch zu essen, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass ein extra dafür gezüchtetes Säuli sein Leben für mich lassen musste.

Auch auf das Gespräch mit der Anästhesiärztin habe ich mich im Internet vorbereitet. Ich frage sie, welche Blumen sie mag. Ich werde ihr einen grossen Strauss Lieblingsblumen schenken, wenn meine intellektuellen Funktionen und insbesondere das Gedächtnis nicht abnehmen, immerhin habe ich solche Berichte in meinem Bekanntenkreis gehört. Ein maximaler Schutz des Hirns ist für mich einer der wichtigsten Gesichtspunkte in der bevorstehenden Herzoperation. Ich lese[vi] andererseits, dass die untere kritische Grenze des zerebralen Perfusionsdrucks, bei der mit Hirnischämie und neurologischen Schäden gerechnet werden muss, nicht bekannt ist, und ähnliches. Offenbar stossen die sonst klar strukturierten Verfahren in der Anästhesiologie ausgerechnet beim Hirn an eine Grenze, wo grosse Erfahrung und zuweilen eine geradezu artistische Interpretation der zuständigen Ärzte erforderlich ist. Die indirekten Kriterien der Narkosetiefe wie Pupille, Schwitzen im Gesicht und Tränenfluss, Blutdruck, Puls, Muskelspannung stehen mit dem Zielorgan Gehirn bzw. mit der dynamischen Hirntätigkeit, die sich nur im EEG zeigen kann, in einem nur lockeren Zusammenhang. Dies trifft insbesondere zu bei tiefer Körpertemperatur von gegen +30 Grad in der Bypass-Phase, wo das Herz abgestellt ist und durch die Herz-Lungen-Maschine ersetzt und auf etwa +15 Grad gekühlt wird.

Neuerdings hat sich ein EEG-basiertes Hirnmonitoring durchgesetzt, womit man dem Patienten Schmerzempfindungen während der Narkose ersparen will. Intraoperative Schmerzempfindung ist zwar selten, können dann aber zu schweren psychischen Störungen führen. Auch kann man durch ein EEG-Monitoring während der Operation subtileren Hirnschädigungen zuvorkommen, die durch mangelhafte Durchblutung und Sauerstoffversorgung entstehen können. Zur Ausstattung vieler Operationssäle gehört seit kurzem der so genannte BIS-Monitor.[vii] Der Name kommt vom Bi-Spektrum, welches hier aus dem Stirn-EEG berechnet wird und relativ zuverlässige Schätzungen der zerebralen Narkosetiefe ermöglicht.

Das Bispektrum wurde am EEG ab 1970 weltweit erstmals in der Zürcher Uni-Kinderklinik von Guido Dumermuth berechnet, auf zimmerfüllenden Computern. Ich habe damals dort meine Diplomarbeit über «EEG-Analysatoren» gemacht, wofür mir 8 Kilobyte auf demselben DEC-Computer zur Verfügung standen. Heute hat man 100'000 Mal mehr in einem gewöhnlichen PC-Arbeitsspeicher(!) Später baute ich die ersten EEG-Analysatoren für das Neuromonitoring, die in Zürich und Bern eingesetzt und in Einbeck[viii] den deutschen Anästhesisten vorgetragen wurden. Leider war die Anästhesie in der damaligen Zeit noch nicht aufnahmebereit für eine derartige Technologie. Heute profitiere ich als Patient möglicherweise ganz entscheidend davon.
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[i] http://www.swissheart.ch/
[ii] Therapie zur Blutverdünnung, Thrombosen-Verhinderung
[iii] Der mechanische Fremdkörper neigt zur «Verschlammung» in Form zusammengeballter Blutkörperchen; solche «Thromben» können sich lösen und werden in die verästelten Gefässe von Lunge oder Hirn geschwemmt, wo sie die Blutversorgung von wichtigen Funktionen abstellen können.
[iv] http://www.neben-wirkungen.de/, dort Medikament > Marcumar;
hier können Sie selbst Ihre persönlichen Erfahrungen mit einem Medikament eintragen.
[v] www.medtronic.com/cardsurgery/products/mosaic_index.html
[vi] Reinhard Larsen: Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax und Gefäßchirurgie. Springer-Verlag, 6. Aufl. 2005, 443 Seiten
[vii] http://www.aspectmedical.com/
[viii] Sertürner, Apotheker in Einbeck bei Göttingen, isolierte 1806 erstmals das Schmerzbetäubungsmittel Morphium aus Opiumsaft, einer der wichtigsten Leistungen der Pharmazie.

Tuesday, June 12, 2007

Der Patient als Arzt

Die Abberufung «meines» Chirurgen führte zu einer unverhofften Wartezeit, in welcher ich zwar von den Kardiologen verabschiedet wurde, mit eindeutiger Empfehlung mich jetzt operieren zu lassen, während die Chirurgen nichts von sich hören liessen. Eine gefährliche Zeit für einen schwer herzkranken Fall! Bin ich das aber wirklich? Gibt es einen Weg, dass der Kelch dieser grossen Herzoperation an mir vorüber geht? Zwar vermeide ich nun grosse Anstrengungen, lasse mich von meinen Angehörigen wenn nötig herumkutschieren, bewältige aber in Ruhe meinen alltäglichen Beruf mit umso grösserer Sorgfalt. Dank perfekter Fernwartungsmöglichkeit über das schnelle Internet kann ich viele Operationen an kranken Computern von meinem Schreibtisch aus erledigen.

Die Nachricht von der bevorstehenden Herzoperation zieht ihre Kreise und bringt mir unerwartetes Mitgefühl. Dass so viele Leute, auch solche, von denen ich es kaum erwartet hätte, an mich denken wollen, ja für mich beten, rührt mich sehr. Schwindelgefühle, die ich früher als eine vegetative Dystonie banalisierte, muss ich jetzt als das prominente Merkmal meiner Herzklappenschwäche deuten. Gerade heute überfiel mich nach dem Frühstück eine solche Schwäche. Wir haben uns eine professionelle Blutdruckmanschette zugelegt, und ich messe einen oberen Blutdruck von nur 85. Nach Kaffee und Honigbrot ist dies eindeutig zu wenig. Das Herz schaufelt zwar mit über 70 Systolen pro Minute, aber die Klappe leckt hochgradig und kann deshalb dem Gefässwiderstand nicht genügend Herzzeitvolumen entgegensetzen. Diese Vorstellung ist nicht aufbauend. Sie stärkt aber meine Einsicht in die Notwendigkeit dieser Operation.

Meine Blog-Leser erinnern sich, dass mich die Zweitmeinung durch meinen herzkundigen Hausarzt entscheidend motivierte, mich weiteren kardiologischen Tests zu unterziehen. In dieser Wartezeit komme ich zu einer unerwarteten professionellen Drittmeinung. Sie stammt ebenfalls von einem Hausarzt der Schulmedizin, einem älteren, erfahrenen Vertreter dieses Berufes, dem ich die Kardiologie meiner Herzklappe darlege. Da ich weiss, dass der Fachmann unkonventionelle Behandlungswege geht und eigene Auffassungen vertritt, solche einer naturnahen Medizin, fragte ich ihn, ob er einen Weg sieht, ohne Operation aus dem Problem herauszufinden. Ja, sagt er, sie müssen aber ihre Einstellung radikal ändern. Ich erzähle ihm, dass ich alles wissen wolle, was die Kardiologie und die grosse Herzoperation betrifft und dass ich schon jede Menge dazugelernt habe und dass mir dies helfe, die Angst abzubauen. Das ist das Verkehrteste, was Sie in Ihrer Situation tun können, versetzte er. Sie müssen in Ihrer Lage alles tun, um sich mit geistigen Heilkräften zu verbünden. Rasch kommen wir zur Rolle des Gebets, dem er offenbar zutraut, auch eine kalzifizierte, in ihrer Funktion schwer eingeschränkte Herzklappe zu heilen. Er meint, nicht die Gebetsmühle schaffe dies, aber ein inbrünstiger, persönlicher, energischer Rapport mit der Macht, die im Kern eines jeden Lebens stecke, die den Grund der ganzen Natur durchwirke, die das Leben selbst sei, könne dies schon richten.

Dem setze ich entgegen, dass ich aus der Kirche ausgetreten sei, weil ich die Ignoranz und die Unwahrheiten vieler ihrer Vertreter nicht länger ertragen habe. Meine Religion sei die Naturwissenschaft, um deren Grenzen ich freilich wisse. Einer Art Pantheismus sei ich nicht abhold, und ich wisse insbesondere, dass das Gefühl[i] und das Bewusstsein, das alles Leben durchwirke und leite, naturwissenschaftlich nicht erklärt sei. Dabei erfahre ich, dass er nicht als Vertreter einer bestimmten Glaubensrichtung argumentiert, sondern als Arzt, der schon manche spontane Heilung aus dem Geist erlebt habe. Der Geist sei doch in allen Dingen, in meinem Fall freilich bleibe nicht mehr viel Zeit. Etwas kleinlaut frage ich zurück, was ich denn noch tun könne vor einer allfälligen Operation, um die Kardiologen von einer spontanen Besserung der Klappenfunktion zu überzeugen. Der intelligente Arzt ringt um Antworten, er weiss, dass er mich nicht mit frommen Sprüchen abspeisen kann, und wir müssen lachen, trotz oder gerade wegen des Ernstes dieser Unterhaltung. Aber er lässt nicht von seinem Standpunkt ab, dass eine geistige Operation auch in meinem Falle möglich wäre. Offenbar denkt auch er, dass das Risiko einer grossen Herzoperation ein hoher Preis ist, der ans Lebendige und an den Rest meines Lebens geht. So geht die Rede hin und wider, bereits klopft der nächste Patient an seine Tür. Als ich noch einmal nachhake, was ich seiner Meinung nach nun konkret tun solle, empfiehlt er mir, ein Bild von Bruno Gröning unter das Kopfkissen zu legen. Dieser grosse Heiler ist zwar verstorben, aber er heilt noch immer. Und zum Schluss: Dann gehen Sie halt an Ihre Operation, ich wünsche Ihnen alles Gute.

Noch am selbigen Abend liegt ein Bild von Bruno Gröning unter meinem Kopfkissen. Fragen Sie mich nicht, ob ich daran glaube. Ich weiss es nicht, Gröning ist ein Fremder für mich. Aber das Bild, das nicht ohne Intensität ist, bleibt unter meinem Kopfkissen bis zur Operation. Schliesslich hat es mir ein Arzt empfohlen, der kein Scharlatan ist. –

Nicht um eine Spontanheilung der Klappe zu bewirken (es wäre vermessen, das von der Psychofonie zu erwarten), aber um die nötige Gelassenheit zu induzieren, um reflexartig zu entspannen und um Schmerzen zu mildern, um nach dem schweren und unvermeidlichen polypharmazeutischen Schock der Narkose das vegetative Gleichgewicht möglichst bald wiederzufinden, mache ich mir eine neue Psychofonie. Ich fühle mich sehr gut bei der Ableitung. Das EEG gelingt wunderschön, es ist weitgehend artefaktfrei. Mein Kopf komponiert die Musiknoten nach dem Psychofonie-Verfahren. Ein erstes thalamo-kortikales Lied von 6 Minuten wird mit Klavier, Glocken- und mit reibenden Horn-Klängen arrangiert. Letztere jagen mir zuweilen einen Schauder den Rücken hinab. Im zweiten Lied, mische ich die Noten des Psychofonie-EEGs mit scharfen Gitarren auf und bette es in ein hypnotisches Meeresrauschen. Wenn jede Krankheit ein musikalisches Problem ist, wie Novalis meint, dann trifft dies auch für meine Klappe zu. Bei der Heilung kann deshalb Musik entscheidend Einfluss nehmen.[ii] In der Psychofonie wird mir das Wohlgefühl aus einem entspannten Moment vor der Operation wieder zugeführt, wenn ich operiert bin. Ich darf erwarten, dass ich mit meiner persönlich abgestimmten Psychofonie die vegetative Anpassungsfähigkeit schneller zurück erlange. Und ich darf vielleicht sogar erwarten, dass dies nicht ohne positive Rückwirkung auf das Herz bleibt, bei der Wiederherstellung der natürlichen Puls-Schwankungsbreite[iii], die vom Sympathikus und vom Nervus vagus gegenläufig beeinflusst ist und die ein Merkmal kardialer Gesundheit und Robustheit ist.
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[i] Andreas Weber: Alles fühlt. Die Revolution der Lebenswissenschaften. Berlin Verlag, 2007, 350 S.
[ii] Siehe Oliver Sacks: Der Tag, an dem mein Bein fortging. rororo Sachbuch Nr. 18884, 1998.
[iii] Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Köpers. Piper-Verlag, 2007, 271 S.; insbesondere 9. Kapitel: Körperliche Risiken von Stress und Depression: Auswirkungen auf Herzkrankheiten, Herzinfarkt und Herztod.

Sunday, June 3, 2007

Das Diagnosen-Karussel


Die Zweitmeinung bringt mir weder ein Quacksalber noch ein Kardiologe, sondern der Hausarzt ins Haus. Er nimmt sich Zeit und besucht mich am Feierabend. Ganze zwei Stunden erklärt er mir meinen Fall. Aus langer Tätigkeit in Entwicklungsländern und als Oberarzt in einer Intensivstation kann er aus dem Vollen schöpfen. Ausserdem hat er es in seiner Hausarztpraxis als FMH für Innere Medizin mit besonders vielen Herzkranken zu tun. Er führt mir drastisch vor Augen, wie heimtückisch meine Variante ist. Die Aortenstenose verläuft asymptomatisch, vielfach wird sie deshalb nicht entdeckt[i]. Macht Sie dann eines Tages ein Symptom[ii], weil die Klappenöffnung unter einen Viertel geschrumpft ist, besteht dringend Handlungsbedarf. Dafür gibt es keine Medizin, nur ein Klappenersatz durch Operation kann mir das langfristige Weiterleben ermöglichen. Trotz grosser Forschungsanstrengungen für Ersatzklappen, die per Herzkatheter ohne Narkose eingepasst werden können[iii], kommt für mich diese fantastische Innovation zu spät. Um mir eine zweite grosse Herzoperation möglichst zu ersparen, kommt nur[iv] eine künstliche Carbonklappe in Frage, wie Sie schon seit 30 Jahren eingenäht wird. 1.7 Millionen solcher Klappen hat die Herstellerfirma[v] schon verkauft. Es gibt also eine riesige Erfahrung für diese Art von Operation, die in Deutschland über 15’000 Mal jährlich ausgeführt wird. In der Schweiz dürften es zwei oder mehr solche Operationen pro Tag sein.

Grosse Herzoperation? Da man die grosse Schlagader von der linken Herzkammer trennen muss, um die Klappe einzunähen, muss das Herz stillgelegt und gekühlt werden. Die Blutversorgung übernimmt dann die Herz-Lungenmaschine, die von einem spezialisierten Kardiotechniker bedient wird. Ein Hauptproblem besteht im Vermeiden von Luftblasen[vi] im Blutkreislauf. Das Schlauchset und alle vier Gefässe, die mit dem Herz verbunden sind, werden entlüftet, bevor sie extrakorporeal mit Blut gespiesen werden. Der Übergang muss in wenigen Sekunden richtig laufen, um das Hirn möglichst nicht zu schädigen. Da der Brustkorb offen ist, muss die Lunge über einen Tubus beatmet werden, was vom Anästhesie-Arzt gemacht wird. Dieser überwacht die Narkosetiefe mit verschiedenen Blut-Messverfahren. In fortschrittlichen Zentren wird überdies ein zerebrales EEG-Vigilanzmonitoring eingesetzt.

Zu dem erneuten Spitaleintritt hilft Mutter Natur etwas nach, die mir gleichzeitig eine Darminfektion schickt. Schon seit einigen Tagen fröstelt es mich abends. Nach dem Hausarztbesuch verspüre ich einen Kloss im Magen. Der Magendruck wird schlimmer und ich muss bald heftig erbrechen. Es ist uns nicht geheuer, zumal das Herz sehr pocht und schwirrt. Dies veranlasst mich, nach zwei Tagen Heimurlaub, erneut ins Spital einzutreten. Ich werde nun auch auf Gastro-Enteritis untersucht, die man bald bestätigt. Also habe ich Recht mit meiner Behauptung, dass die kardiologischen Befunde des ersten Spitaleintritts nicht die ganze Wahrheit sind. Die harmlose Darminfektion nimmt ihren Lauf und endet bald mit einem wässrigen Stuhlabgang. Nun werde ich jeden Tag mit neuen kardiologischen Abklärungen bekannt gemacht. Man will die Aortenklappe noch genauer beobachten.

Für die transösophageale Echokardiographie muss ich unterschreiben, da man mich dazu in eine leichte Narkose versetzt. Das linke Herz ist per Ultraschall am besten vom Magen aus erreichbar. Die Sonde besteht aus einem fingerdicken Schlauch mit einem Ultraschallkopf im verdickten Ende. Schon wieder eine Schlange, denke ich. Diese wird durch den Mund in die Speiseröhre geschoben. Atmen kann man nur noch durch die Nase. Da ich einen starken Würgreflex habe, wird mein Mund unempfindlich eingesprayt, ich muss überdies diese üble Flüssigkeit möglichst weit hinten gurgeln. In wenige Minuten ist mein Mund nur noch ein riesiges Loch ohne Empfindungen. Das Narkosemittel wird an der Infusion bereitgelegt. Ich muss mithelfen und kräftig schlucken, wenn der Arzt, der die Sonde hinunterschiebt, das Zeichen gibt. Zwei oder dreimal heftig geschluckt, und die Sonde liegt schon im Magen. Jetzt sinke ich in die Narkose. Manchmal höre ich noch das Gespräch beider Kardiologen, die nun gemeinsam die Klappe abtasten und beurteilen. Alles wird als Video aufgezeichnet. Schon erwache ich wieder und gebe das verabredete Handzeichen, da es mich unangenehm würgt. Sekunden später schlafe ich wieder. Das geht dreimal so weiter – ich kann per Handzeichen die Narkose selber steuern und höre zwischendurch immer wieder die Messbefunde der Ärzte, die von Pendelfluss, Blutjetgeschwindigkeit und Druckdifferenzen sprechen. Nach etwa zwanzig Minuten wird die Sonde wieder zurückgezogen. Ich darf endgültig aufwachen und Lob einstecken für vorzügliches Mitwirken. Ach wie gut das tut! Man zeigt mir noch am Bildschirm, wie das Blut nun erwiesenermassen nicht nur in eine Richtung fliesst, was die Aufgabe des Klappenventils wäre, sondern es fliesst nach jeder Systole ein messbarer erheblicher Bruchteil des arteriellen Bluts wieder in die linke Herzkammer zurück. Dieser Pendelfluss ich auch in der Leistenarterie nachweisbar, er erscheint hier allerdings durch die Dehnbarkeit der grossen Blutgefässe verstärkt. Ich liege in meinem Bett recht euphorisch und sage der Abteilungsschwester, es sein mir wie in einem Krimi vorgekommen, so spannend sei es gewesen. Mehr Wissen – weniger Stress ist bei mir offensichtlich die Devise.

Nun zapft man mir mehrmals grosse Blutproben ab, die Proben müssen für das ganze Blutvolumen repräsentativ sein. Man schüttet im Labor das Blut auf Nährböden und will es auf Bakterienwachstum testen. Bakterien wachsen auch nach Tagen keine aus meinem Blut. Die gefürchtete Endokarditis[vii] kann damit ausgeschlossen werden; meine Klappe ist zwar sehr verkalkt und verdickt, aber nicht von Bakterien befallen. Mein Fieber ist nicht auf Endokarditis, sondern auf die virale Darminfektion zurückzuführen.

Nach etwas Ruhezeit, in welcher noch ein Ultraschall vom Bauch und von den Halsschlagadern gemacht wird, alles ohne Befund, klingen meine Halsschmerzen ab, die vom dicken Tubus hervorgerufen wurden. Nun ist der Test mit Herzkatheter angesagt. Dieser wichtige Test ergänzt die Ultraschallfilme und dient der Operationsplanung. Man will insbesondere wissen, ob meine Herzkranzgefässe in Ordnung sind. Raffinierte Röntgenaufnahmen bringen dies an den Tag. Die schweren Röntenröhren und -kameras sind an riesigen kardanischen Ringen in alle Richtungen drehbar angebracht. Auf einer Wand von sechs Bildschirmen lese ich Bruno Fricker. Die gewaltige Maschine kennt mich schon, denke ich. Die rechte Leistenarterie wird vom versierten Kardiologen angestochen, eine Führungshülse wird eingeführt und am Bein befestigt. Der Katheter besteht aus mehreren flexiblen Schlauchstücken, durch welche Kontrastmittel ins Blut gepumpt werden kann, das die Blutgefässe lokal röntgendicht macht und dunkel abbildet. Zuerst sondiert der Arzt die drei grossen Herzkranzarterien, deren Zugänge an der Aortenklappe liegen. Offenbar gelingt es, das Kontrastmittel in diese Gefässe gezielt zu injizieren. Es entstehen drei schöne Gefässabbildungen, Angiografien, die ich ohne weiteres im Salon aufhängen würde, denn sie gleichen wunderbar verästelten Wurzeln, die übrigens ganz gesund sind. Eine weitere Ressource für eine gute Operation kann man damit abhaken. Schliesslich wir im Aortenbogen, wo die Arterie bis zu 4 Quadratzentimeter Querschnitt hat, Kontrastmittel injiziert. Die Aorta wird heiss und zeichnet sich dunkel ab. Mit jedem Herzschlag (Diastole) füllt sich die linke Herzkammer ebenfalls mit Kontrastmittel, nach drei Diastolen ist die Herzkammer ebenfalls schwarz. Es fliesst also massiv arterielles Blut in die Kammer zurück. Eine schwere Undichtigkeit (Insuffizienz) der Aortenklappe kommt nun erwiesenermassen zum Vorschein. Sie ist ein weiteres Kriterium, um nicht länger zuzuwarten. Dies alles wird mir vom Kardiologen nach dem Untersuch als Video vorgeführt. Das beeindruckt mich sehr.

Ein letztlich entscheidender Untersuch zielt auf die Belastungsfähigkeit des Herzens. Ich muss mich auf das Ergometer-Velo setzen, unter EKG-Überwachung und im Beisein des Kardiologen trete ich mit 65 Umdrehungen pro Minute tüchtig in die Pedalen. Die Bremse wird stufenweise angezogen, ich darf mit meiner Tretgeschwindigkeit nicht nachlassen. Es schaut gut aus, die Pflegefachfrau misst immer wieder den Blutdruck am Oberarm. Dieser erhöht sich belastungsabhängig. Die Beine schmerzen, als ich die meinem Körperbau entsprechende normale Belastungsgrenze erreiche. Plötzlich überfallen mich eine grosse Schwäche und Schwindel. Mit fremder Hilfe kann ich mich noch auf die benachbarte Liege legen. Der obere Blutdruck sackt auf nur 60 ab. Das EKG zeigt zwar keine Arrhythmie, aber eine Veränderung in den Kurvenbögen, das Herz pumpt anders als normal. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis ich wieder flott bin. Das ist also mein Herzproblem, denke ich, das mich bei Anstrengungen jederzeit wieder überfallen kann, wenn ich zuwarte.

Bald entlässt man mich aus dem Spital. Alle Daten sind nun erhoben. Ein wurzelbehandelter Zahn, der etwas vereitert ist, muss noch gezogen werden. Ein Lungentest wird noch ambulant gemacht: Meine Lunge ist tadellos, die Atemleistung sogar überdurchschnittlich, denn ich rauche nicht. Eine weitere Ressource vor allem für die Narkose höre ich vom freundlichen Pulmologen, und ich bin froh darüber. Die Kardiologen senden mir schriftlich das Aufgebot. Ein Datum für die Besprechung mit dem Chirurgen wird angesetzt. Ich freue mich, denn es ist ein jüngerer Chirurg mit einem eindrücklichen Leistungsausweis, insbesondere bei defekten Aortenklappen, für mich zuständig. Was bin ich doch für ein Glückspilz! Doch es kommt anders.

Am Tag vor der Besprechung sendet mir dieser lehrbeauftragte und forschende Herzchirurg die Nachricht, die Besprechung könne nicht stattfinden, denn er sei ausgerechnet jetzt als Chefchirurg an ein auswärtiges Kantonspital abberufen worden. Gleichzeitig lese ich in der NZZ, dass Zürichs Oberärzte und Leitende Ärzte im öffentlichen Spitaldienst im interkantonalen Vergleich am drittschlechtesten verdienen. Werde ich ein Opfer unsäglicher Zürcher Sparpolitik?
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[i] 60 Jahre glaubte ich, ein gesundes Herz zu haben
[ii] Blässe und schnelle Ermüdbarkeit, Atemnot, Schmerzen und Enge in der Brust (Angina pectoris), Schwindel und Kollapsneigung, unregelmässiger Puls, niedriger Blutdruck
[iii] www.jenavalve.de/index.php?id=Technology&subid=Product
[iv] Internetmeinungen, die Chirurgen haben sich bei mir zum Zeitpunkt dieser Niederschrift noch nicht dazu geäussert.
[v] www.sjm.de/patienten/herzklappenersatz.html
[vi] Luftembolien können tödlich sein oder im Hirn zu Lähmungen führen.
[vii] Grundsätzlich kann jeder Mensch an einer Endokarditis erkranken, und unbehandelt ist der Krankheitsverlauf meist tödlich. In Westeuropa ist die Endokarditis bei herzgesunden Menschen selten geworden und seit der Einführung von Antibiotika auch behandelbar. Eine erhöhte Gefahr, an einer Endokarditis zu erkranken, besteht jedoch bei Menschen mit angeborenen oder erworbenen Herzfehlern (insbesondere nach Herzklappenersatz). (Aus Wikipedia.)

Friday, June 1, 2007

In der Schlangengrube Äskulaps


Wer (wie ich) sein Leben lang auf sein gottlob gesundes Herz vertraut, sich nie schont und plötzlich die Diagnose «schwer Herzkrank - Operation unabwendbar» hört, erleidet zunächst einen Schock.[i] Erste Reaktion: «Ich hör' es wohl, allein mir fehlt der Glaube - an euch Ärzte!» Es kann doch nicht sein, dass dieses Herz mich 60 Jahre lang zuverlässig und ohne Krankheitszeichen[ii] mit dem roten Lebenssaft versorgte, und nun plötzlich die Aortenklappe nur noch ein Viertel (Befund A: Stenose) aufmachen und in der Gegenphase nicht mehr zuverlässig schliessen soll (Befund B: Insuffizienz). Diagnose A hat der Hausarzt nach wenigen Minuten des Abhorchens und Abtastens der Brust bereits richtig gestellt. Befund B ergänzt der Kardiologe in den Gardinen der Notfallaufnahmestation, nachdem er mich mit dem kalt gelierten Ultraschallkopf von aussen sondiert hat.

Diese Echokardiografie stellt die Ventrikel[iii] dar, misst Fliessgeschwindigkeiten; Druckdifferenzen zwischen linker Herzkammer und Hauptschlagader können dank Dopplereffekt[iv] quantifiziert, Pendelflüsse durch Farbumschlag sichtbar gemacht werden. Die Schulmedizin kennt sich hier aus, ich sei ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch. Eine solche Stenose kann entstehen, weil zwei der drei Klappensegel zusammengewachsen[v] sind. Die Klappe ist dann kein Mercedesstern, sondern ein abwärts gekrümmter Mund, vermutlich seit Geburt. Dass mein Herz mit Fischmund einem Fisch gleicht, der in seinem schlüpfrigen Beutel schon mehr als 2 Milliarden mal Blut erbrach, soll mich nicht wundern, da ich im Sternzeichen der Fische zur Welt kam... Aber Mutter Natur hat viele Wege, um mit einem solchen «Fisch-Herz» klarzukommen und den Fehler zu verstecken.

Im Herzmuskel steckt viel Kraft, ein höherer Kammerdruck ist dauernd herstellbar. Das Blut, statt im Sekundentakt herauszuglupschen, spritzt durch den engen Mund mit hohem Druck. Ein Strahl wie von einem gequetschten Gartenschlauch kann als eigentümliches Schwirren unter dem Kehlkopf ertastet werden. Eine solche Klappe allerdings verkalkt und versteift sich mit der Zeit, bevorzugt wachsen hier Bakterien in flottierenden Thromben[vi], die sich zuweilen lösen und etwa im Gehirn wichtige Areale verstopfen können. Der äussere Ultraschallbefund reicht für eine solche Diagnosestellung nicht hin. Auch kann damit die rasch tödliche Komplikation einer durch den Blutjet beschädigten Aorta nicht genügend abgeklärt werden. Ein Ultraschall-Echo wird an der fraglichen Stelle immerhin festgestellt.

Man fährt mich zum Cardio-CT[vii], wo ein Röntgenapparat in einem aufgestellten Ring rotiert und der Patient auf seiner Liege Zentimeterweise vorwärts und zurück manövriert wird. Über die Infusion wird Kontrastmittel von Schering ins Blut gespritzt, während die Kamera herumsaust und ich mit voller Lunge die Luft anhalten muss, die Arme über dem Kopf verschränkt. Durch Scherings Iohexol werden nicht nur die Gefässe wunderbar abgebildet, es wird auch der Brustkorb sekundenlang ganz heiss, doch dies ist nur eine Sinnestäuschung durch die Ausbreitung der für die Gefässe fremdartigen Substanz. Der heisse Schwall saust übrigens den Bauch hinunter und verliert sich innert weniger Sekunden zwischen den Beinen, wo er nochmals ganz heiss aufbraust. So zirkuliert das Blut in mir, denke ich ganz kühl, die Hauptsache gelangt in den Unterleib. Der Test erbrachte Entwarnung hinsichtlich der kritischen Frage eines Aortenrisses. Meine Aorta ist schön, die andern Gefässe in der Brust sind es auch, meine Herzmuskeln sind eventuell etwas vergrössert, so wie die Muskeln eines Bäckers anwachsen durch unablässige Beanspruchung beim Teigkneten.

Ich bin damit kein Notfall mehr, sondern Subjekt weiterer Differenzialdiagnosen. Der leitende Kardiologe, ein humorvoller Deutscher, bringt sieben Studenten der Uni an mein Bett, die mit Palpation und Auskultation die Hausarzt-Diagnose stellen sollten. Nur zwei haben es vermocht, ein Deutscher und ein Schweizer. Die andern, eine Afrikanerin aus Äthiopiens Berghütten, eine bildhübsche Tamilin, ein quirliger intelligenter Chinese, ein introvertierter Türke mit gepflegtem Bürstenschnitt und ein weiteres blauäugiges Nordlicht müssen noch gehörig dazulernen. Einmal mehr bin ich entzückt über die polyglotte Schweiz, wo die Uni den Tüchtigsten weltweit offen steht und wo unsere eigene alkoholisierte Handy-vor-der-Nase-Jugend massenhaft durch die ersten Medizin-Prüfungen gesiebt und in subalterne Berufe entlassen wird. Unser Hausarztproblem wird sich dennoch ohne weiteres lösen lassen: Die Pechschwarze wird statt in Afrikas Lehmhütten dereinst im Madranertal den verwaisten Hausarztposten übernehmen und der Chinese wird statt TCM am Jangtsekiang in Sternenberg den Puls fühlen und seine Befunde erst noch in Mundart verständlich erklären können. Wunderbar, wie weit die Integration der Ausländer im grossen Lehrkrankenhaus fortgeschritten ist: Ich schätze, dass gegen 80% Ausländer sind, quer durch alle Berufe und Chargen. Und ich fühle mich als medizin-kritischer[viii] Allgemein-Versicherter in diesem Spital sehr freundlich, menschlich aufmerksam und professionell umsorgt. Es fehlt mir hier wirklich an nichts.

Allein der Gedanke, dass demnächst mein Brustbein vertikal aufgesägt und der Altar meiner Brust mit Stahlzwingen geöffnet werden soll, ist mir ziemlich unerträglich. Mein Diagnose-Schock wird zunächst auf der untersten Verarbeitungsstufe, nämlich durch freundlich-kompetente Besprechung des mir Zugestossenen, gehörig gedämpft, ist aber noch nicht eigentlich aufgelöst.

Am Tag nach der Gardinen-Diagnose fühlte ich mich wieder blendend, wie nach einer Migräne. Die beiden Kardiologen sprechen an meinem Bett vom Herzkatheter-Test[ix], welcher der unmittelbaren Vorbereitung der grossen Herzoperation[x] dienen soll. Ich winke ab und sage ich wolle nach Hause, um eine Zweitmeinung einzuholen. Die Internistin und Stationsärztin, eine freundliche Hannoveranerin, gesellt sich hinzu, und ich versichere den Ärzten, dass ich alle messtechnischen Abklärungen dankbar ehre und für wahr halte, dass dies allerdings nicht die ganze Wahrheit sei. Die Heftigkeit meiner vegetativen Symptome mit Schwindel und Erbrechen sowie Bauchweh könnten aus der Aortenstenose nicht hinreichend erklärt werden, zumal weder Stress noch körperliche Leistung vorangingen. Ausserdem seien die vielen Blutdruckmessungen von Anfang an alle normal. Hierauf kann man mir nichts entgegnen, das Stillschweigen deute ich als Einverständnis. Man warnt mich aber vor Quacksalbern und reicht mir einen Zettel, auf dem ich per Unterschrift erklären muss, hiermit die volle Verantwortung für meinen Fall zu übernehmen. Dies ist meine Schockverarbeitung auf Stufe zwei, nämlich durch Kampf-Flucht-Reaktion. Ich unterschreibe unverzüglich und verlasse die Schlangengrube Äskulaps.
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[i] Die Vorgeschichte können Sie in diesem Blog lesen.
[ii] Ein asymptomatischer Verlauf macht die Aortenstenose besonders heimtückisch.
[iii] Herzkammern, Klappen und grosse Gefässe
[iv] Das Schallsignal wird als Pfeifton mit einer bestimmten Frequenz ausgesendet, es prallt auf ein bewegtes Hindernis; das Echo kommt mit einer veränderten Frequenz zurück; aus der Frequenzdifferenz wird die Bewegungsgeschwindigkeit des Hindernisses ausgerechnet. Der Dopplereffekt wird auch bei Skyguide für Flugzeugbewegungen, in der Radarfalle der Gemeindepolizei und in einem Teil der Lasermäuse angewendet. Siehe Wikipedia.
[v] man spricht von einen bikuspiden = zweizipfligen Klappe
[vi] Sie gleichen den Algen an einem alten Brunnenrohr; sie können Embolien, Infarkte, Thrombosen verursachen, wenn sie sich lösen und im Blutstrom mitgeschwemmt werden.
[vii] http://www.swissheart.ch/, die Patienteninformationen der Schweizerischen Herzstiftung sind äusserst informativ
[viii] Siehe www.psychofonie.ch/Humor.htm .
[ix] Reinhard Larsen: Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax- und Gefässchirurgie. Das Buch ist im Download bei http://www.ciando.com/ sofort verfügbar. Das Stichwort Herzkatheter kann in der Volltextsuche 44-mal im Kontext gefunden werden, worauf das Buch auch kapitelweise gekauft und als Pdf-File heruntergeladen werden kann.
[x] Helmut Baumgartner: Asymptomatische Aortenstenose. Wann soll man operieren? Wann kann man zuwarten? Herz 2006, 31, p.664-669.

Wednesday, May 30, 2007

Die vegetative Krise

Seit etwa zwei Tagen fühle ich mich etwas angegriffen. Obgleich die Tage vorsommerlich warm und hell sind, fröstelt es mich, wenn es einnachtet. So geht das erste Mai-Wochenende vorüber und es wird Montag, ein denkwürdiger Tag. Gegen Mittag halte ich noch etwas PC-Kurs in der Nachbarschaft. Es ist eher muffig im Zimmer. Ich konzentriere mich auf den Bildschirm, atme kaum. Plötzlich beginnt dieser zu schwimmen. Mir wird schwindlig. Ich versuche, diesen mir nicht ganz unbekannten Zustand zu vertuschen, indem ich die Maus dem Schüler überlasse, er möge es jetzt noch selber probieren (wir waren gerade am Aufdatieren einer Webseite) und ob man das Fenster neben mir etwas öffnen können. Das hilft nicht viel. Ein heftiger Schwindel hält mich im Griff. Denken kann ich wohl, und mich bewegen auch, aber es wogt und dreht sich um mich her. Ich sage, dass ich den Kurs abbrechen möchte, mir sei nicht wohl. Unsicher, jedoch noch kontrolliert, stehe ich auf, gehe zur Wohnungstür und steige drei Stockwerke auf die Strasse hinunter. Dort lasse ich mich in meinen Autositz fallen, der Wagen ist nicht weit weg parkiert. Ich fahre die Fenster hinunter und verharre einige Minuten halb liegend im Polster. Einige Kinder eilen nach Hause und betrachten mich verdutzt im Vorübergehen. Zum Glück sind es nur zwei Strassen bis ins Büro zurück. Dies schaffe ich noch mit langsamster Fahrt. Im Büro überrasche ich meine liebe Frau mit der Bemerkung, mir gehe es gar nicht gut.

Erschrocken eilt sie mir entgegen und geleitet mich in die hinteren Räume, wo ich mich auf das Bett werfe, um «abzuwettern». Aber die schweren Wetter in meinem Körper hören nicht auf, es saust und braust im Gehör, die Decke wogt hin und wieder über das ganze Gesichtsfeld und ohne erkennbare Gesetzmässigkeit. Derartige Schwächeanfälle sind mir und meiner Frau nicht ganz unbekannt, wenn auch nicht in dieser Wucht. Deshalb greift sie wohl nicht gleich zum Telefon, wir hoffen beide, dass es mit einem feuchten Lappen auf der Stirn und mit frischer Luft rasch bessert. Als mich nach einer halben Stunde aber noch heftige Übelkeit sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit überfallen, kriegen wir es mit der Angst zu tun, und sie telefoniert dem Hausarzt, der in nur wenigen Minuten zur Stelle ist. Durch Betastung und mit dem Stethoskop stellt er in wenigen Minuten die Diagnose: Schwere Aortenstenose, also eine Verengung der letzten Herzklappe, die das arterielle Blut in die mächtige Körperschlagader entlässt. Der Hausarzt bestellt eine Ambulanz, und wir einigen uns auf eine Notfalleinweisung ins Herzzentrum des nahen städtischen Spitals. Ich bin immer noch fähig, mitzudenken und Entscheidungen zu treffen, bin wach und realisiere genau, was vorgeht, in mir und um mich her.

Die Ambulanz lässt nicht lange auf sich warten. Der Hausarzt nützt die Zeit, um am linken Unterarm eine Infusion zu legen. Diese wird benötigt, um jederzeit Medikamente in die Vene einbringen zu können, ohne den Körper jedes Mal neu anstechen zu müssen. Der Brechreiz ist inzwischen ultimativ stark. Gerade rechtzeitig wird mir eine Schüssel gereicht. Heftig übergebe ich mich, kann die Schüssel zum Glück noch richtig halten und ordentlich zurückgeben. Das Bett ist sauber geblieben. Das erste Medikament in der Infusion ist ein Antibrechmittel. Es wirkt genau so lang, wie die Fahrt in der Ambulanz dauert. Meine Frau nimmt vorne Platz. Die Beifahrerin setzt sich hinten zu mir und löchert mich mit Fragen, eine ganze Anamnese, mit der sie mich in der Notfallaufnahme überstellen muss. Diese weiss vom Hausarzt schon telefonisch Bescheid über den neuen Herznotfall-Eintritt. Der Abschied vom Krankenwagen quittiere ich mit einem abermaligen heftigen Erbrechen, selbstkontrolliert hygienebewusst in Säcke, so schlimm wird es also noch nicht stehen mit mir. Die Crew dankt es mir mit einem freundlichen «gute Besserung». Auf der Bahre rattern sie mich in die Intensivüberwachung, wo ich zwischen vier Gardinen mit allerhand Überwachungsgerät kontaktiert werde, nicht ohne mich vorher zu entkleiden. Alles persönlich geht in einen grossen blauen Sack. Ich muss das Spitalnachthemd anziehen, dass hinten offen ist und in welchem man den letzten Rest von Widerstand verliert gegen die unabänderliche Tatsache, dass man schwer krank ist - und eine Nummer, wie ich befürchte.

Doch ich habe von nun an dieses öffentliche Spital etwas genauer kennen gelernt. Soviel vorweg: Mein negatives Vorurteil wich in kurzer Zeit einem dankbaren Erstaunen darüber, wie professionell und menschlich warm es hier zugeht. Das ist ein guter Anfang in dieser Anstalt, die mir das Weiterleben ermöglichen soll. Einmal ganz auf mich selbst bezogen, abgeschnitten von meinen Pflichten, Sorgen und Mühen als «Problemlösungsmaschine» für andere, dämmere ich in meinen vier Gardinen vor mich hin, umstellt vor rhythmisch piepsenden, unablässig zeichnenden Monitoren, am Oberarm umklammert von einer automatischen Blutdruckmanschette.

Es drängen sich allerlei Geschichten an mein Ohr: Drüben jammert ein Methadon-Abhängiger, der unbedingt wieder auf die Gasse möchte. Sein Freund stand ebenfalls in der Koje und beteuert der Ärztin, dass er für seinen abhängigen Kumpan gut sorgen werde. Die Ärztin gibt skeptisch zu bedenken: «Dann werden Sie spätestens in zwei Tagen wieder hier landen.»
Neben mir, durch den Vorhang getrennt, liegt eine ältere Frau und stöhnt, hat heftige Schmerzen. Von Tuberkulose ist die Rede, von Isolierstation. Es wird ihr eine Gesichtsmaske verpasst – damit sie uns nicht ansteckt? Arme Frau, die nun durch die Maske stöhnen muss und nun noch das Gefühl erleiden muss, zu ersticken.

Ich bin ein leichter Fall, denke ich zumindest pflegeleicht. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ich schwer herzkrank sein soll, hatte nie Engegefühle oder Atemnot, nie Schmerzen in der Brust, nie einen Infarkt – selten nur diese vegetativen Krisen der beschriebenen Art, höchstens einige Minuten Unpässlichkeit, keine Synkopen, wo man die Selbstkontrolle augenblicklich verliert. Mit dem Auto konnte ich immer kontrolliert anhalten, wenn ich eine Schwäche kommen spürte, in Tunnels hielt ich immer tapfer durch, begann aber solche Fahrten, zumal bei schwerem Berufsverkehr auf Autobahnen, wo es keine Ausweichmöglichkeiten gab, zu meiden. Ich zog wenn möglich eine Passfahrt vor oder nahm den Zug. – Endlich löschte man in meinem Zelt das blendende Deckenlicht, und ich döste ein.

Die Bergwanderung

Freundlich grüsst der nahe Frühlingsberg in seinem saftigen grün-abgestuften Blätterkleid. Ihn wieder einmal auf der kürzesten und steilsten Route zu bezwingen, danach stand mir der Sinn. Lange ist es her, seit ich diesen Pfad der Jugend das letzte Mal unter die Füsse nahm. Vielleicht hegte ich insgeheim den Wunsch, mir selbst zu beweisen, dass diese Jugend in meinen Gebeinen noch nicht ganz entschwunden war.

Von den beiden jüngsten Töchtern flankiert nehmen wir den lauschigen Bergweg in Angriff. Die Sonne blinkt durch das Blätterwerk, in den Runsen murmeln Bäche, und die grosse Vogelwelt feiert mit ihren eigenen Liedern den jungen Tag. Zum Takt der Schritte pocht das Herz und liefert dem Bergsteiger zuverlässig wie eh und je den nötigen Saft, so zuverlässig, dass man es vergisst. Selbstvergessenheit ist nicht nur das Merkmal des Kindes in seinem Spiel, es ist auch das Merkmal der Gesundheit.
In Verschnaufpausen geniessen wir den sich weitenden Ausblick auf See und Stadt und über die sanften Hügelzüge, gekrönt durch Firnelicht. Über unsern Köpfen tuckert die Seilbahnkabine bergwärts. Mit keiner Faser wünsche ich dort drin zu sitzen. Der höchste Genuss ist jetzt, aus eigener Kraft zu steigen.

Meine Töchtern kümmern sich rührend um mich. Etwas bleich sei ich wohl. Von leichten Absenzen war gar die Rede. Doch empfand ich dies eher als Ausdruck einer zärtlichen Übervorsorge für den geliebten Papa, der nicht weiss, womit er sich diese unerforschliche Zuneigung seiner Sprösslinge verdient hat. Als Belohnung spendiere ich im Bergrestaurant Süssigkeiten und Getränke. Dann wird auf dem Gratweg flott weitermarschiert. Ausblicke in andere Kantone öffnen sich, ins Zugerland, in die Berge rund um den Vierwaldstättersee, und auch die Mythen bei Schwyz glänzen herüber. Die Töchter beschweren sich über meinen zu raschen Schritt. Ich erinnere mich, dass auch mein Vater der wandernden Familie wie eine Lokomotive vorauseilte. Dann geht es wieder abwärts auf leichten Füssen ins Flusstal zurück.

Mit Pausen mögen wir gut drei Stunden unterwegs gewesen zu sein. Es war ein tolles Erlebnis, voller Anklänge, Anmutungen an die eigene Kindheit und ihre Wanderungen. Von einem schwer kranken Herzen habe ich nichts gespürt. Ich fühlte mich gesund und selbstvergessen, auf der Höhe meiner Kraft.

Wednesday, April 25, 2007

Der verzauberte Webstuhl

Wussten Sie, dass Sie einen riesigen Teppich[1] im Kopf haben? Einer, der sein Erscheinungs­muster in jeder Sekunde vielfach wechselt? Damit ist die Hirnrinde (=Cortex) gemeint, die als dünnes Nerventuch mit äusserst eng verwobenen Fasern das Hirn gegen aussen abschliesst. Es ist vielfach gewunden und eingebuchtet, um in der Schädelkugel möglichst viel Fläche unterzubringen. Sie sehen oben zwei vertikale Schnitte aus dieser Fläche, die aus einigermassen senkrecht angeordneten Nervenzellen besteht. Nach der Geburt findet eine rasch dichter werdende Vernetzung statt, links sieht man die Verästelungen nach 6 Monaten, rechts nach 24 Monaten. Dies ist die «Rechenma­schine», womit sich das Kleinkind der Umwelt bemächtigt, und in welcher seine laufenden Empfindungen und Gefühle entstehen. Es gibt nur diese Hirnrinde, etwas anderes hat die Neuroforschung nicht entdeckt. An ihr muss es liegen, dass wir zu Menschen werden. – Skandalös! Wie soll das zugehen?
Was das Baby erwirbt, dazulernt, schlägt sich in einem rasch dichter werdenden Netz der Zellfortsätze nieder. Der Zweck dieser Nervenzellen ist es, Impulse auszutauschen; Dutzende, Hunderte Impulse pro Sekunde rasen durch jede Faser im Geflecht. Die Fasern kontaktieren sich vielfach: Fasern, die Impulse aufnehmen[2] werden berührt von vielen Fasern, die Impulse abgeben[3]. Im kindlichen Wachstum werden vor allem immer mehr Kontaktstellen[4] untereinander geschaffen. Dieses Wachstum wird durch eine stimulierende Umgebung gefördert. Kontakte, die wiederholt gebraucht werden, verstärken sich.[5] Ein waches Kind lernt fortwährend, es kann gar nicht anders.


Das reife Gehirn besitzt etwa 100 Milliarden Nervenzellen, welche durch 100 Billionen Synapsen eng miteinander verbunden sind. Davon liegt ein Zehntel im Cortex. Das heisst, dass jedes Neuron im Schnitt mit 1000 anderen Neuronen verbunden ist und somit im Prinzip jedes beliebige Neuron von jedem Startneuron aus in höchstens vier Schritten erreichbar ist.[6] Stellen Sie sich die Hirnrinde ausgebreitet vor, sie hätte dann etwa die Ausdehnung einer Serviette. Vergrößern Sie diese Serviette nun zu einem Teppich in der Ausdehnung eines Tennisplatzes. Die Maschen des Teppichs entsprechen dann cortikalen Funktionseinheiten, die wie Mannschaften zusammenarbeiten und sich gegen aussen verteidigen. Die Fasern in diesen Maschen – es hat Tausende in jeder Teppichmasche – entsprechen in dieser Auslegeordnung den Pyramidenzellen und ihren dichten, verfilzten Verästelungen.


Wie hat man sich Gedanken und Gefühle materiell vorzustellen? Der grosse Physiker Richard Feynman sah es so: Das Denken muss eine Art dynamisches Muster sein, nicht direkt verkörpert in einem Nervengewebe, eher darauf schwimmend, unabhängig davon. Der Clou also: Dieser Teppich ändert sein Muster gegen hundert Mal in der Sekunde. Der entspannte Bewusstseinszustand kann man sich wie Zufallsmuster vorstellen, wie ein TV-Schirm ohne Sender. Schiessen spezifische Sinnesimpulse hinein, schalten einzelne grössere Muster an und ab, unruhig wechselnd, aber kurzzeitig zusammenhängend. Auch entfernt liegende Musterungen können synchron, d.h. zusammenhängend entstehen und vergehen. Sie können sich das auch als Lichtermeer einer Millionenstadt vom Flugzeug aus vorstellen, die Lichter funkeln unzusammenhängend, schalten zufällig an und ab. Diese Stadt ist immer wach. In ihr gibt es auch weit verstreute Lichter eines Flugplatzes, die im Gegensatz zu allen andern Lichter synchron an und ab blinken. Das fällt sofort auf. Die im Takt spezifisch blinkenden Lichter sieht der Pilot ohne weiteres und kann dadurch den Landeplatz erkennen. Auf ähnliche Weise werden sich eine Beobachtung, ein Gedankensplitter, eine Gefühlstönung und eine Bewegungsabsicht auf der Hirnrinde als dynamisch-synchrone Muster der oben beschriebenen Teppichmaschen koordiniert abbilden.[7] Und die unablässige Folge solcher Lichter oder Formen mit einem kurzen zeitlichen Zusammenhalt entspricht dem bewussten Wahrnehmen. Eines Tages werden wir dies abbilden können, Ansätze dazu gibt es bereits.[8] Nach wie vor ist aber die subjektive Seite des Spiels wissenschaftlich nicht erklärt. Die jedem von uns am nächsten liegende Innenwelt, meine Empfindung von mir selbst und von der Umgebung, in der ich agiere, mein sich selbst bewusster Geist ist und bleibt ein Wunder. Wir geniessen diese Welt in der Literatur, in der Kunst und in der Musik. Seit 70 Jahren hat Sherringtons Webstuhl nichts von seinem Zauber eingebüsst !


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[1] C.S. Sherrington verglich 1940 das menschliche Gehirn mit einem Zauberwebstuhl, der in der Lage ist, eine sich schnell wandelnde Aussenwelt in einem Webmuster laufend abzubilden. Dieses dynamische Gewebe ist die Hirnrinde (Cortex). Sie schliesst als etwa 3mm dickes Nervengewebe das Gehirn gegen aussen ab. Nicht die Fasern an sich oder ihr Vernetzungsmuster ändern sich so schnell, aber die Farbgebung, so wie ein Film die Leinwand an jeder Stelle laufend umfärbt.
[2] Dendriten, auch Zellkörper; alle Fachwörter lassen sich bei Google oder Wikipedia im Internet bequem nachschlagen
[3] Axone
[4] Synapsen
[5] Hebb-Regel
[6] Soweit die Überschlagsrechnung – in der Realität gibt es eine Hierarchie der Verbindungen, bei welcher ein Bruchteil dieser Verbindungen den Ausschlag gibt: Online-Artikel http://biology.plosjournals.org/perlserv/?request=get-document&doi=10.1371/journal.pbio.0030068
[7] das Bindungsproblem kann damit erklärt werden
[8] Verfahren wie fMRI und insbesondere EEG/MEG und das optische NIRS werden den schnellen Musterveränderung am ehesten gerecht. fMRI kann bislang wesentlich unter 1s nicht auflösen, beim EEG/MEG werden 0.01s und schneller erreicht. Wenn das EEG während einer Hirnoperation am offenen Schädel direkt am Cortex mit Vielkanalelektroden abgeleitet wird, kommt man dem Ziel, den Zauberwebstuhl abzubilden, am nächsten. Siehe Lutz Jäncke:
Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften, Kohlhammer, 2005, 235 S. m. 129 Abb. ISBN 3170184695