Tuesday, June 12, 2007

Der Patient als Arzt

Die Abberufung «meines» Chirurgen führte zu einer unverhofften Wartezeit, in welcher ich zwar von den Kardiologen verabschiedet wurde, mit eindeutiger Empfehlung mich jetzt operieren zu lassen, während die Chirurgen nichts von sich hören liessen. Eine gefährliche Zeit für einen schwer herzkranken Fall! Bin ich das aber wirklich? Gibt es einen Weg, dass der Kelch dieser grossen Herzoperation an mir vorüber geht? Zwar vermeide ich nun grosse Anstrengungen, lasse mich von meinen Angehörigen wenn nötig herumkutschieren, bewältige aber in Ruhe meinen alltäglichen Beruf mit umso grösserer Sorgfalt. Dank perfekter Fernwartungsmöglichkeit über das schnelle Internet kann ich viele Operationen an kranken Computern von meinem Schreibtisch aus erledigen.

Die Nachricht von der bevorstehenden Herzoperation zieht ihre Kreise und bringt mir unerwartetes Mitgefühl. Dass so viele Leute, auch solche, von denen ich es kaum erwartet hätte, an mich denken wollen, ja für mich beten, rührt mich sehr. Schwindelgefühle, die ich früher als eine vegetative Dystonie banalisierte, muss ich jetzt als das prominente Merkmal meiner Herzklappenschwäche deuten. Gerade heute überfiel mich nach dem Frühstück eine solche Schwäche. Wir haben uns eine professionelle Blutdruckmanschette zugelegt, und ich messe einen oberen Blutdruck von nur 85. Nach Kaffee und Honigbrot ist dies eindeutig zu wenig. Das Herz schaufelt zwar mit über 70 Systolen pro Minute, aber die Klappe leckt hochgradig und kann deshalb dem Gefässwiderstand nicht genügend Herzzeitvolumen entgegensetzen. Diese Vorstellung ist nicht aufbauend. Sie stärkt aber meine Einsicht in die Notwendigkeit dieser Operation.

Meine Blog-Leser erinnern sich, dass mich die Zweitmeinung durch meinen herzkundigen Hausarzt entscheidend motivierte, mich weiteren kardiologischen Tests zu unterziehen. In dieser Wartezeit komme ich zu einer unerwarteten professionellen Drittmeinung. Sie stammt ebenfalls von einem Hausarzt der Schulmedizin, einem älteren, erfahrenen Vertreter dieses Berufes, dem ich die Kardiologie meiner Herzklappe darlege. Da ich weiss, dass der Fachmann unkonventionelle Behandlungswege geht und eigene Auffassungen vertritt, solche einer naturnahen Medizin, fragte ich ihn, ob er einen Weg sieht, ohne Operation aus dem Problem herauszufinden. Ja, sagt er, sie müssen aber ihre Einstellung radikal ändern. Ich erzähle ihm, dass ich alles wissen wolle, was die Kardiologie und die grosse Herzoperation betrifft und dass ich schon jede Menge dazugelernt habe und dass mir dies helfe, die Angst abzubauen. Das ist das Verkehrteste, was Sie in Ihrer Situation tun können, versetzte er. Sie müssen in Ihrer Lage alles tun, um sich mit geistigen Heilkräften zu verbünden. Rasch kommen wir zur Rolle des Gebets, dem er offenbar zutraut, auch eine kalzifizierte, in ihrer Funktion schwer eingeschränkte Herzklappe zu heilen. Er meint, nicht die Gebetsmühle schaffe dies, aber ein inbrünstiger, persönlicher, energischer Rapport mit der Macht, die im Kern eines jeden Lebens stecke, die den Grund der ganzen Natur durchwirke, die das Leben selbst sei, könne dies schon richten.

Dem setze ich entgegen, dass ich aus der Kirche ausgetreten sei, weil ich die Ignoranz und die Unwahrheiten vieler ihrer Vertreter nicht länger ertragen habe. Meine Religion sei die Naturwissenschaft, um deren Grenzen ich freilich wisse. Einer Art Pantheismus sei ich nicht abhold, und ich wisse insbesondere, dass das Gefühl[i] und das Bewusstsein, das alles Leben durchwirke und leite, naturwissenschaftlich nicht erklärt sei. Dabei erfahre ich, dass er nicht als Vertreter einer bestimmten Glaubensrichtung argumentiert, sondern als Arzt, der schon manche spontane Heilung aus dem Geist erlebt habe. Der Geist sei doch in allen Dingen, in meinem Fall freilich bleibe nicht mehr viel Zeit. Etwas kleinlaut frage ich zurück, was ich denn noch tun könne vor einer allfälligen Operation, um die Kardiologen von einer spontanen Besserung der Klappenfunktion zu überzeugen. Der intelligente Arzt ringt um Antworten, er weiss, dass er mich nicht mit frommen Sprüchen abspeisen kann, und wir müssen lachen, trotz oder gerade wegen des Ernstes dieser Unterhaltung. Aber er lässt nicht von seinem Standpunkt ab, dass eine geistige Operation auch in meinem Falle möglich wäre. Offenbar denkt auch er, dass das Risiko einer grossen Herzoperation ein hoher Preis ist, der ans Lebendige und an den Rest meines Lebens geht. So geht die Rede hin und wider, bereits klopft der nächste Patient an seine Tür. Als ich noch einmal nachhake, was ich seiner Meinung nach nun konkret tun solle, empfiehlt er mir, ein Bild von Bruno Gröning unter das Kopfkissen zu legen. Dieser grosse Heiler ist zwar verstorben, aber er heilt noch immer. Und zum Schluss: Dann gehen Sie halt an Ihre Operation, ich wünsche Ihnen alles Gute.

Noch am selbigen Abend liegt ein Bild von Bruno Gröning unter meinem Kopfkissen. Fragen Sie mich nicht, ob ich daran glaube. Ich weiss es nicht, Gröning ist ein Fremder für mich. Aber das Bild, das nicht ohne Intensität ist, bleibt unter meinem Kopfkissen bis zur Operation. Schliesslich hat es mir ein Arzt empfohlen, der kein Scharlatan ist. –

Nicht um eine Spontanheilung der Klappe zu bewirken (es wäre vermessen, das von der Psychofonie zu erwarten), aber um die nötige Gelassenheit zu induzieren, um reflexartig zu entspannen und um Schmerzen zu mildern, um nach dem schweren und unvermeidlichen polypharmazeutischen Schock der Narkose das vegetative Gleichgewicht möglichst bald wiederzufinden, mache ich mir eine neue Psychofonie. Ich fühle mich sehr gut bei der Ableitung. Das EEG gelingt wunderschön, es ist weitgehend artefaktfrei. Mein Kopf komponiert die Musiknoten nach dem Psychofonie-Verfahren. Ein erstes thalamo-kortikales Lied von 6 Minuten wird mit Klavier, Glocken- und mit reibenden Horn-Klängen arrangiert. Letztere jagen mir zuweilen einen Schauder den Rücken hinab. Im zweiten Lied, mische ich die Noten des Psychofonie-EEGs mit scharfen Gitarren auf und bette es in ein hypnotisches Meeresrauschen. Wenn jede Krankheit ein musikalisches Problem ist, wie Novalis meint, dann trifft dies auch für meine Klappe zu. Bei der Heilung kann deshalb Musik entscheidend Einfluss nehmen.[ii] In der Psychofonie wird mir das Wohlgefühl aus einem entspannten Moment vor der Operation wieder zugeführt, wenn ich operiert bin. Ich darf erwarten, dass ich mit meiner persönlich abgestimmten Psychofonie die vegetative Anpassungsfähigkeit schneller zurück erlange. Und ich darf vielleicht sogar erwarten, dass dies nicht ohne positive Rückwirkung auf das Herz bleibt, bei der Wiederherstellung der natürlichen Puls-Schwankungsbreite[iii], die vom Sympathikus und vom Nervus vagus gegenläufig beeinflusst ist und die ein Merkmal kardialer Gesundheit und Robustheit ist.
_______________________
[i] Andreas Weber: Alles fühlt. Die Revolution der Lebenswissenschaften. Berlin Verlag, 2007, 350 S.
[ii] Siehe Oliver Sacks: Der Tag, an dem mein Bein fortging. rororo Sachbuch Nr. 18884, 1998.
[iii] Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Köpers. Piper-Verlag, 2007, 271 S.; insbesondere 9. Kapitel: Körperliche Risiken von Stress und Depression: Auswirkungen auf Herzkrankheiten, Herzinfarkt und Herztod.

Sunday, June 3, 2007

Das Diagnosen-Karussel


Die Zweitmeinung bringt mir weder ein Quacksalber noch ein Kardiologe, sondern der Hausarzt ins Haus. Er nimmt sich Zeit und besucht mich am Feierabend. Ganze zwei Stunden erklärt er mir meinen Fall. Aus langer Tätigkeit in Entwicklungsländern und als Oberarzt in einer Intensivstation kann er aus dem Vollen schöpfen. Ausserdem hat er es in seiner Hausarztpraxis als FMH für Innere Medizin mit besonders vielen Herzkranken zu tun. Er führt mir drastisch vor Augen, wie heimtückisch meine Variante ist. Die Aortenstenose verläuft asymptomatisch, vielfach wird sie deshalb nicht entdeckt[i]. Macht Sie dann eines Tages ein Symptom[ii], weil die Klappenöffnung unter einen Viertel geschrumpft ist, besteht dringend Handlungsbedarf. Dafür gibt es keine Medizin, nur ein Klappenersatz durch Operation kann mir das langfristige Weiterleben ermöglichen. Trotz grosser Forschungsanstrengungen für Ersatzklappen, die per Herzkatheter ohne Narkose eingepasst werden können[iii], kommt für mich diese fantastische Innovation zu spät. Um mir eine zweite grosse Herzoperation möglichst zu ersparen, kommt nur[iv] eine künstliche Carbonklappe in Frage, wie Sie schon seit 30 Jahren eingenäht wird. 1.7 Millionen solcher Klappen hat die Herstellerfirma[v] schon verkauft. Es gibt also eine riesige Erfahrung für diese Art von Operation, die in Deutschland über 15’000 Mal jährlich ausgeführt wird. In der Schweiz dürften es zwei oder mehr solche Operationen pro Tag sein.

Grosse Herzoperation? Da man die grosse Schlagader von der linken Herzkammer trennen muss, um die Klappe einzunähen, muss das Herz stillgelegt und gekühlt werden. Die Blutversorgung übernimmt dann die Herz-Lungenmaschine, die von einem spezialisierten Kardiotechniker bedient wird. Ein Hauptproblem besteht im Vermeiden von Luftblasen[vi] im Blutkreislauf. Das Schlauchset und alle vier Gefässe, die mit dem Herz verbunden sind, werden entlüftet, bevor sie extrakorporeal mit Blut gespiesen werden. Der Übergang muss in wenigen Sekunden richtig laufen, um das Hirn möglichst nicht zu schädigen. Da der Brustkorb offen ist, muss die Lunge über einen Tubus beatmet werden, was vom Anästhesie-Arzt gemacht wird. Dieser überwacht die Narkosetiefe mit verschiedenen Blut-Messverfahren. In fortschrittlichen Zentren wird überdies ein zerebrales EEG-Vigilanzmonitoring eingesetzt.

Zu dem erneuten Spitaleintritt hilft Mutter Natur etwas nach, die mir gleichzeitig eine Darminfektion schickt. Schon seit einigen Tagen fröstelt es mich abends. Nach dem Hausarztbesuch verspüre ich einen Kloss im Magen. Der Magendruck wird schlimmer und ich muss bald heftig erbrechen. Es ist uns nicht geheuer, zumal das Herz sehr pocht und schwirrt. Dies veranlasst mich, nach zwei Tagen Heimurlaub, erneut ins Spital einzutreten. Ich werde nun auch auf Gastro-Enteritis untersucht, die man bald bestätigt. Also habe ich Recht mit meiner Behauptung, dass die kardiologischen Befunde des ersten Spitaleintritts nicht die ganze Wahrheit sind. Die harmlose Darminfektion nimmt ihren Lauf und endet bald mit einem wässrigen Stuhlabgang. Nun werde ich jeden Tag mit neuen kardiologischen Abklärungen bekannt gemacht. Man will die Aortenklappe noch genauer beobachten.

Für die transösophageale Echokardiographie muss ich unterschreiben, da man mich dazu in eine leichte Narkose versetzt. Das linke Herz ist per Ultraschall am besten vom Magen aus erreichbar. Die Sonde besteht aus einem fingerdicken Schlauch mit einem Ultraschallkopf im verdickten Ende. Schon wieder eine Schlange, denke ich. Diese wird durch den Mund in die Speiseröhre geschoben. Atmen kann man nur noch durch die Nase. Da ich einen starken Würgreflex habe, wird mein Mund unempfindlich eingesprayt, ich muss überdies diese üble Flüssigkeit möglichst weit hinten gurgeln. In wenige Minuten ist mein Mund nur noch ein riesiges Loch ohne Empfindungen. Das Narkosemittel wird an der Infusion bereitgelegt. Ich muss mithelfen und kräftig schlucken, wenn der Arzt, der die Sonde hinunterschiebt, das Zeichen gibt. Zwei oder dreimal heftig geschluckt, und die Sonde liegt schon im Magen. Jetzt sinke ich in die Narkose. Manchmal höre ich noch das Gespräch beider Kardiologen, die nun gemeinsam die Klappe abtasten und beurteilen. Alles wird als Video aufgezeichnet. Schon erwache ich wieder und gebe das verabredete Handzeichen, da es mich unangenehm würgt. Sekunden später schlafe ich wieder. Das geht dreimal so weiter – ich kann per Handzeichen die Narkose selber steuern und höre zwischendurch immer wieder die Messbefunde der Ärzte, die von Pendelfluss, Blutjetgeschwindigkeit und Druckdifferenzen sprechen. Nach etwa zwanzig Minuten wird die Sonde wieder zurückgezogen. Ich darf endgültig aufwachen und Lob einstecken für vorzügliches Mitwirken. Ach wie gut das tut! Man zeigt mir noch am Bildschirm, wie das Blut nun erwiesenermassen nicht nur in eine Richtung fliesst, was die Aufgabe des Klappenventils wäre, sondern es fliesst nach jeder Systole ein messbarer erheblicher Bruchteil des arteriellen Bluts wieder in die linke Herzkammer zurück. Dieser Pendelfluss ich auch in der Leistenarterie nachweisbar, er erscheint hier allerdings durch die Dehnbarkeit der grossen Blutgefässe verstärkt. Ich liege in meinem Bett recht euphorisch und sage der Abteilungsschwester, es sein mir wie in einem Krimi vorgekommen, so spannend sei es gewesen. Mehr Wissen – weniger Stress ist bei mir offensichtlich die Devise.

Nun zapft man mir mehrmals grosse Blutproben ab, die Proben müssen für das ganze Blutvolumen repräsentativ sein. Man schüttet im Labor das Blut auf Nährböden und will es auf Bakterienwachstum testen. Bakterien wachsen auch nach Tagen keine aus meinem Blut. Die gefürchtete Endokarditis[vii] kann damit ausgeschlossen werden; meine Klappe ist zwar sehr verkalkt und verdickt, aber nicht von Bakterien befallen. Mein Fieber ist nicht auf Endokarditis, sondern auf die virale Darminfektion zurückzuführen.

Nach etwas Ruhezeit, in welcher noch ein Ultraschall vom Bauch und von den Halsschlagadern gemacht wird, alles ohne Befund, klingen meine Halsschmerzen ab, die vom dicken Tubus hervorgerufen wurden. Nun ist der Test mit Herzkatheter angesagt. Dieser wichtige Test ergänzt die Ultraschallfilme und dient der Operationsplanung. Man will insbesondere wissen, ob meine Herzkranzgefässe in Ordnung sind. Raffinierte Röntgenaufnahmen bringen dies an den Tag. Die schweren Röntenröhren und -kameras sind an riesigen kardanischen Ringen in alle Richtungen drehbar angebracht. Auf einer Wand von sechs Bildschirmen lese ich Bruno Fricker. Die gewaltige Maschine kennt mich schon, denke ich. Die rechte Leistenarterie wird vom versierten Kardiologen angestochen, eine Führungshülse wird eingeführt und am Bein befestigt. Der Katheter besteht aus mehreren flexiblen Schlauchstücken, durch welche Kontrastmittel ins Blut gepumpt werden kann, das die Blutgefässe lokal röntgendicht macht und dunkel abbildet. Zuerst sondiert der Arzt die drei grossen Herzkranzarterien, deren Zugänge an der Aortenklappe liegen. Offenbar gelingt es, das Kontrastmittel in diese Gefässe gezielt zu injizieren. Es entstehen drei schöne Gefässabbildungen, Angiografien, die ich ohne weiteres im Salon aufhängen würde, denn sie gleichen wunderbar verästelten Wurzeln, die übrigens ganz gesund sind. Eine weitere Ressource für eine gute Operation kann man damit abhaken. Schliesslich wir im Aortenbogen, wo die Arterie bis zu 4 Quadratzentimeter Querschnitt hat, Kontrastmittel injiziert. Die Aorta wird heiss und zeichnet sich dunkel ab. Mit jedem Herzschlag (Diastole) füllt sich die linke Herzkammer ebenfalls mit Kontrastmittel, nach drei Diastolen ist die Herzkammer ebenfalls schwarz. Es fliesst also massiv arterielles Blut in die Kammer zurück. Eine schwere Undichtigkeit (Insuffizienz) der Aortenklappe kommt nun erwiesenermassen zum Vorschein. Sie ist ein weiteres Kriterium, um nicht länger zuzuwarten. Dies alles wird mir vom Kardiologen nach dem Untersuch als Video vorgeführt. Das beeindruckt mich sehr.

Ein letztlich entscheidender Untersuch zielt auf die Belastungsfähigkeit des Herzens. Ich muss mich auf das Ergometer-Velo setzen, unter EKG-Überwachung und im Beisein des Kardiologen trete ich mit 65 Umdrehungen pro Minute tüchtig in die Pedalen. Die Bremse wird stufenweise angezogen, ich darf mit meiner Tretgeschwindigkeit nicht nachlassen. Es schaut gut aus, die Pflegefachfrau misst immer wieder den Blutdruck am Oberarm. Dieser erhöht sich belastungsabhängig. Die Beine schmerzen, als ich die meinem Körperbau entsprechende normale Belastungsgrenze erreiche. Plötzlich überfallen mich eine grosse Schwäche und Schwindel. Mit fremder Hilfe kann ich mich noch auf die benachbarte Liege legen. Der obere Blutdruck sackt auf nur 60 ab. Das EKG zeigt zwar keine Arrhythmie, aber eine Veränderung in den Kurvenbögen, das Herz pumpt anders als normal. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis ich wieder flott bin. Das ist also mein Herzproblem, denke ich, das mich bei Anstrengungen jederzeit wieder überfallen kann, wenn ich zuwarte.

Bald entlässt man mich aus dem Spital. Alle Daten sind nun erhoben. Ein wurzelbehandelter Zahn, der etwas vereitert ist, muss noch gezogen werden. Ein Lungentest wird noch ambulant gemacht: Meine Lunge ist tadellos, die Atemleistung sogar überdurchschnittlich, denn ich rauche nicht. Eine weitere Ressource vor allem für die Narkose höre ich vom freundlichen Pulmologen, und ich bin froh darüber. Die Kardiologen senden mir schriftlich das Aufgebot. Ein Datum für die Besprechung mit dem Chirurgen wird angesetzt. Ich freue mich, denn es ist ein jüngerer Chirurg mit einem eindrücklichen Leistungsausweis, insbesondere bei defekten Aortenklappen, für mich zuständig. Was bin ich doch für ein Glückspilz! Doch es kommt anders.

Am Tag vor der Besprechung sendet mir dieser lehrbeauftragte und forschende Herzchirurg die Nachricht, die Besprechung könne nicht stattfinden, denn er sei ausgerechnet jetzt als Chefchirurg an ein auswärtiges Kantonspital abberufen worden. Gleichzeitig lese ich in der NZZ, dass Zürichs Oberärzte und Leitende Ärzte im öffentlichen Spitaldienst im interkantonalen Vergleich am drittschlechtesten verdienen. Werde ich ein Opfer unsäglicher Zürcher Sparpolitik?
_______________________________
[i] 60 Jahre glaubte ich, ein gesundes Herz zu haben
[ii] Blässe und schnelle Ermüdbarkeit, Atemnot, Schmerzen und Enge in der Brust (Angina pectoris), Schwindel und Kollapsneigung, unregelmässiger Puls, niedriger Blutdruck
[iii] www.jenavalve.de/index.php?id=Technology&subid=Product
[iv] Internetmeinungen, die Chirurgen haben sich bei mir zum Zeitpunkt dieser Niederschrift noch nicht dazu geäussert.
[v] www.sjm.de/patienten/herzklappenersatz.html
[vi] Luftembolien können tödlich sein oder im Hirn zu Lähmungen führen.
[vii] Grundsätzlich kann jeder Mensch an einer Endokarditis erkranken, und unbehandelt ist der Krankheitsverlauf meist tödlich. In Westeuropa ist die Endokarditis bei herzgesunden Menschen selten geworden und seit der Einführung von Antibiotika auch behandelbar. Eine erhöhte Gefahr, an einer Endokarditis zu erkranken, besteht jedoch bei Menschen mit angeborenen oder erworbenen Herzfehlern (insbesondere nach Herzklappenersatz). (Aus Wikipedia.)

Friday, June 1, 2007

In der Schlangengrube Äskulaps


Wer (wie ich) sein Leben lang auf sein gottlob gesundes Herz vertraut, sich nie schont und plötzlich die Diagnose «schwer Herzkrank - Operation unabwendbar» hört, erleidet zunächst einen Schock.[i] Erste Reaktion: «Ich hör' es wohl, allein mir fehlt der Glaube - an euch Ärzte!» Es kann doch nicht sein, dass dieses Herz mich 60 Jahre lang zuverlässig und ohne Krankheitszeichen[ii] mit dem roten Lebenssaft versorgte, und nun plötzlich die Aortenklappe nur noch ein Viertel (Befund A: Stenose) aufmachen und in der Gegenphase nicht mehr zuverlässig schliessen soll (Befund B: Insuffizienz). Diagnose A hat der Hausarzt nach wenigen Minuten des Abhorchens und Abtastens der Brust bereits richtig gestellt. Befund B ergänzt der Kardiologe in den Gardinen der Notfallaufnahmestation, nachdem er mich mit dem kalt gelierten Ultraschallkopf von aussen sondiert hat.

Diese Echokardiografie stellt die Ventrikel[iii] dar, misst Fliessgeschwindigkeiten; Druckdifferenzen zwischen linker Herzkammer und Hauptschlagader können dank Dopplereffekt[iv] quantifiziert, Pendelflüsse durch Farbumschlag sichtbar gemacht werden. Die Schulmedizin kennt sich hier aus, ich sei ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch. Eine solche Stenose kann entstehen, weil zwei der drei Klappensegel zusammengewachsen[v] sind. Die Klappe ist dann kein Mercedesstern, sondern ein abwärts gekrümmter Mund, vermutlich seit Geburt. Dass mein Herz mit Fischmund einem Fisch gleicht, der in seinem schlüpfrigen Beutel schon mehr als 2 Milliarden mal Blut erbrach, soll mich nicht wundern, da ich im Sternzeichen der Fische zur Welt kam... Aber Mutter Natur hat viele Wege, um mit einem solchen «Fisch-Herz» klarzukommen und den Fehler zu verstecken.

Im Herzmuskel steckt viel Kraft, ein höherer Kammerdruck ist dauernd herstellbar. Das Blut, statt im Sekundentakt herauszuglupschen, spritzt durch den engen Mund mit hohem Druck. Ein Strahl wie von einem gequetschten Gartenschlauch kann als eigentümliches Schwirren unter dem Kehlkopf ertastet werden. Eine solche Klappe allerdings verkalkt und versteift sich mit der Zeit, bevorzugt wachsen hier Bakterien in flottierenden Thromben[vi], die sich zuweilen lösen und etwa im Gehirn wichtige Areale verstopfen können. Der äussere Ultraschallbefund reicht für eine solche Diagnosestellung nicht hin. Auch kann damit die rasch tödliche Komplikation einer durch den Blutjet beschädigten Aorta nicht genügend abgeklärt werden. Ein Ultraschall-Echo wird an der fraglichen Stelle immerhin festgestellt.

Man fährt mich zum Cardio-CT[vii], wo ein Röntgenapparat in einem aufgestellten Ring rotiert und der Patient auf seiner Liege Zentimeterweise vorwärts und zurück manövriert wird. Über die Infusion wird Kontrastmittel von Schering ins Blut gespritzt, während die Kamera herumsaust und ich mit voller Lunge die Luft anhalten muss, die Arme über dem Kopf verschränkt. Durch Scherings Iohexol werden nicht nur die Gefässe wunderbar abgebildet, es wird auch der Brustkorb sekundenlang ganz heiss, doch dies ist nur eine Sinnestäuschung durch die Ausbreitung der für die Gefässe fremdartigen Substanz. Der heisse Schwall saust übrigens den Bauch hinunter und verliert sich innert weniger Sekunden zwischen den Beinen, wo er nochmals ganz heiss aufbraust. So zirkuliert das Blut in mir, denke ich ganz kühl, die Hauptsache gelangt in den Unterleib. Der Test erbrachte Entwarnung hinsichtlich der kritischen Frage eines Aortenrisses. Meine Aorta ist schön, die andern Gefässe in der Brust sind es auch, meine Herzmuskeln sind eventuell etwas vergrössert, so wie die Muskeln eines Bäckers anwachsen durch unablässige Beanspruchung beim Teigkneten.

Ich bin damit kein Notfall mehr, sondern Subjekt weiterer Differenzialdiagnosen. Der leitende Kardiologe, ein humorvoller Deutscher, bringt sieben Studenten der Uni an mein Bett, die mit Palpation und Auskultation die Hausarzt-Diagnose stellen sollten. Nur zwei haben es vermocht, ein Deutscher und ein Schweizer. Die andern, eine Afrikanerin aus Äthiopiens Berghütten, eine bildhübsche Tamilin, ein quirliger intelligenter Chinese, ein introvertierter Türke mit gepflegtem Bürstenschnitt und ein weiteres blauäugiges Nordlicht müssen noch gehörig dazulernen. Einmal mehr bin ich entzückt über die polyglotte Schweiz, wo die Uni den Tüchtigsten weltweit offen steht und wo unsere eigene alkoholisierte Handy-vor-der-Nase-Jugend massenhaft durch die ersten Medizin-Prüfungen gesiebt und in subalterne Berufe entlassen wird. Unser Hausarztproblem wird sich dennoch ohne weiteres lösen lassen: Die Pechschwarze wird statt in Afrikas Lehmhütten dereinst im Madranertal den verwaisten Hausarztposten übernehmen und der Chinese wird statt TCM am Jangtsekiang in Sternenberg den Puls fühlen und seine Befunde erst noch in Mundart verständlich erklären können. Wunderbar, wie weit die Integration der Ausländer im grossen Lehrkrankenhaus fortgeschritten ist: Ich schätze, dass gegen 80% Ausländer sind, quer durch alle Berufe und Chargen. Und ich fühle mich als medizin-kritischer[viii] Allgemein-Versicherter in diesem Spital sehr freundlich, menschlich aufmerksam und professionell umsorgt. Es fehlt mir hier wirklich an nichts.

Allein der Gedanke, dass demnächst mein Brustbein vertikal aufgesägt und der Altar meiner Brust mit Stahlzwingen geöffnet werden soll, ist mir ziemlich unerträglich. Mein Diagnose-Schock wird zunächst auf der untersten Verarbeitungsstufe, nämlich durch freundlich-kompetente Besprechung des mir Zugestossenen, gehörig gedämpft, ist aber noch nicht eigentlich aufgelöst.

Am Tag nach der Gardinen-Diagnose fühlte ich mich wieder blendend, wie nach einer Migräne. Die beiden Kardiologen sprechen an meinem Bett vom Herzkatheter-Test[ix], welcher der unmittelbaren Vorbereitung der grossen Herzoperation[x] dienen soll. Ich winke ab und sage ich wolle nach Hause, um eine Zweitmeinung einzuholen. Die Internistin und Stationsärztin, eine freundliche Hannoveranerin, gesellt sich hinzu, und ich versichere den Ärzten, dass ich alle messtechnischen Abklärungen dankbar ehre und für wahr halte, dass dies allerdings nicht die ganze Wahrheit sei. Die Heftigkeit meiner vegetativen Symptome mit Schwindel und Erbrechen sowie Bauchweh könnten aus der Aortenstenose nicht hinreichend erklärt werden, zumal weder Stress noch körperliche Leistung vorangingen. Ausserdem seien die vielen Blutdruckmessungen von Anfang an alle normal. Hierauf kann man mir nichts entgegnen, das Stillschweigen deute ich als Einverständnis. Man warnt mich aber vor Quacksalbern und reicht mir einen Zettel, auf dem ich per Unterschrift erklären muss, hiermit die volle Verantwortung für meinen Fall zu übernehmen. Dies ist meine Schockverarbeitung auf Stufe zwei, nämlich durch Kampf-Flucht-Reaktion. Ich unterschreibe unverzüglich und verlasse die Schlangengrube Äskulaps.
_________________
[i] Die Vorgeschichte können Sie in diesem Blog lesen.
[ii] Ein asymptomatischer Verlauf macht die Aortenstenose besonders heimtückisch.
[iii] Herzkammern, Klappen und grosse Gefässe
[iv] Das Schallsignal wird als Pfeifton mit einer bestimmten Frequenz ausgesendet, es prallt auf ein bewegtes Hindernis; das Echo kommt mit einer veränderten Frequenz zurück; aus der Frequenzdifferenz wird die Bewegungsgeschwindigkeit des Hindernisses ausgerechnet. Der Dopplereffekt wird auch bei Skyguide für Flugzeugbewegungen, in der Radarfalle der Gemeindepolizei und in einem Teil der Lasermäuse angewendet. Siehe Wikipedia.
[v] man spricht von einen bikuspiden = zweizipfligen Klappe
[vi] Sie gleichen den Algen an einem alten Brunnenrohr; sie können Embolien, Infarkte, Thrombosen verursachen, wenn sie sich lösen und im Blutstrom mitgeschwemmt werden.
[vii] http://www.swissheart.ch/, die Patienteninformationen der Schweizerischen Herzstiftung sind äusserst informativ
[viii] Siehe www.psychofonie.ch/Humor.htm .
[ix] Reinhard Larsen: Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax- und Gefässchirurgie. Das Buch ist im Download bei http://www.ciando.com/ sofort verfügbar. Das Stichwort Herzkatheter kann in der Volltextsuche 44-mal im Kontext gefunden werden, worauf das Buch auch kapitelweise gekauft und als Pdf-File heruntergeladen werden kann.
[x] Helmut Baumgartner: Asymptomatische Aortenstenose. Wann soll man operieren? Wann kann man zuwarten? Herz 2006, 31, p.664-669.